In unserer heutigen, technisierten Welt haben die meisten Menschen der Industrienationen den direkten Zugang zur Natur verloren. NATURZYT geht auf Fährtenlese - im wilden Osten der Schweiz - im Schweizerischen Nationalpark.
Ziel ist es, die Natur sich frei von Einflüssen durch Mensch und Haustier entfalten zu lassen. Als Motiv steht also nicht der Mensch mit seinem Bedürfnis im Vordergrund, sondern der natürliche Lebensraum, seine ungestörte Entwicklung und die wissenschaftliche Erforschung der natürlichen Veränderungen. Nicht reiner Naturgenuss ist das Ziel, sondern das umfassende Verständnis der Natur, das sich zeigt in einem sorgsamen Umgang mit unserer Welt. Dies war vor 99 Jahren der Grundstein zum heutigen Nationalpark.
Eine ursprüngliche Vegetation entdecken
Der Schweizerische Nationalpark liegt im Osten des Landes im Gebiet der Unterengadiner Dolomiten, einem vorwiegend brüchigen, kalkhaltigen Gestein, das langsam und andauernd verwittert und sich in grossflächigen, langen Schutthalden zu Tale schiebt. Nur in den südlichen und östlichen Randbereichen, eingangs Val Trupchun oder am Munt la Schera, finden wir den rötlichen Verrucano.
Als geologische Besonderheit weist der Park neben kleineren zwei grosse Blockgletscher auf, die in der Val da l’Acqua und der Val Sassa seit Jahrtausenden zu Tale fliessen.
Auffällig sind an vielen Stellen mit Vegetation bedeckte Erdzungen, so genannte Erdströme, die in Abhängigkeit von Temperaturwechseln abwärts gleiten. In den tieferen Lagen des Parks ist die Landschaft geprägt von ausgedehnten Wäldern. Aus den Wäldern aufsteigend erreichen wir die Zwergstrauchgürtel, die übergehen in subalpine und alpine Rasen, riesige Weideflächen, die heute von den grossen Huftieren und von Murmeltieren genutzt werden.
Den tiefsten Punkt mit 1380 m finden wir dort, wo der Talfluss der Val S-charl, die Clemgia, den Nationalpark verlässt. Als höchste Gipfel erheben sich im Norden der Piz Pisoc (3174 m) und im Süden der Piz Quattervals (3165 m), an dem 4 Täler ihren Ursprung haben.
Eine intakte Flora im Trockengebiet
Rund 30 Prozent der Fläche sind von Wäldern bedeckt, alpine Weiden umfassen gut 20 Prozent. Die übrige, kaum von Vegetation bedeckte Fläche setzt sich aus Fels, Schutt, Schnee und Wasser zusammen. Der Park liegt mitten im inneralpinen Trockengebiet, dem Föhrenbezirk der Zentralalpen.
Die Waldgrenze erreicht die aussergewöhnliche Höhe von 2200 bis 2300 m. An den Wald schliessen Zwergstrauchgesellschaften mit Alpenrosen, Zwergweiden, Wacholder und Rauschbeeren an und leiten über zu den alpinen Rasen. Vor allem hier findet der Wanderer eine Fülle farbenprächtiger Alpenpflanzen wie Enziane, Edelweiss und Alpenveilchen. Noch höher, in der Felsregion, wachsen Polsterpflanzen und Pionierarten und in den Schotterfeldern etwa der goldgelbe Rhätische Alpenmohn.
Luchs, Bär, Wolf und Bartgeier im Schweizer Nationalpark
Bereits vor der Gründung des Schweizerischen Nationalparks im Jahr 1914 waren die Grossraubtiere Braunbär, Wolf und Luchs sowie der Bartgeier ausgerottet worden. Der letzte Bär der Schweiz wurde am 1. September 1904 im S-charl-Tal erlegt. 2007 wanderte erstmals wieder ein Luchs aus der Nordostschweiz in den Nationalpark ein. 2005 wanderte der erste Jungbär in die Nationalparkregion ein. Seitdem haben 7 weitere Tiere den Weg nach Graubünden gefunden. In den letzten Jahren sind in regelmässigen Abständen Wölfe von den Westalpen her in die Schweiz eingewandert. Von 1991 bis 2007 wurden im Schweizerischen Nationalpark insgesamt 26 Bartgeier ausgewildert.
Von den 4 heute viel beachteten Huftierarten, fehlten Hirsch und Steinbock zur Zeit der Gründung. Während der Hirsch ab etwa 1918 aus Vorarlberg wieder einwanderte, geht der aktuelle Steinbockbestand auf Aussetzungen zwischen dem 20. Juni 1920 und dem 6. Juli 1934 zurück. Immer im Gebiet geblieben war einzig die Gämse, während das Reh erst um die Jahrhundertwende in die Region eingewandert ist und die tieferen Lagen dauerhaft besiedelt hat. In vielen Kolonien über das ganze Parkgebiet verstreut, lebt das leicht zu beobachtende Alpenmurmeltier.
Der Alpenschneehase bewohnt den Nationalpark zwar in grösserer Zahl, ist aber schwierig zu beobachten. Das an sich häufige Eichhörnchen schwankt erheblich in seinem Bestand. Füchse können, wenn auch selten, bei hellem Tageslicht entdeckt werden. Beobachtungen von Hermelin und Mauswiesel sind Glücksfälle.
Die zahlreichen Kleinsäuger wie Gartenschläfer, Tiroler Gartenschläfer, Schneemaus oder Feldmaus werden in der Regel nur von Spezialisten entdeckt, sind aber nicht selten.
Im Schweizerischen Nationalpark brütet der Steinadler in 6 Paaren. Turmfalken, Kolkraben und Alpendohlen horsten wie der Steinadler an steilen Felswänden. An Wildhuhnarten sind Auer-, Birk-, Schnee- und Steinhuhn nachgewiesen. In den Wäldern kommen die verschiedenen Meisenarten und vor allem der Buntspecht häufig vor. Seltener sind hingegen Schwarz- und Dreizehenspecht, und nur lokal tritt der Grünspecht auf. Auf den alpinen Weiden singen Steinschmätzer und Bergpieper. Im Nationalpark liegt mit 2400 m eines der höchstgelegenen Brutgebiete der Feldlerche. Von den Lurchen finden wir nur zwei Arten, den Grasfrosch und den Bergmolch. Zwei Arten Reptilien kommen vor: die Bergeidechse und die Kreuzotter (Vorsicht: Giftschlange).
Trotz des rauhen Klimas pflanzen sich alle Amphibien- und Reptilienarten fort. Mehr als 5000 Arten wirbelloser Tiere konnten im Schweizerischen Nationalpark bis heute bestimmt werden.
Wanderungen im Schweizer Nationalpark
Der Besuch des Nationalparkzentrums liefert die Hintergründe dazu. In unberührter Natur wandern, Murmeltiere auf kurze Distanz beobachten, Edelweiss am Wegrand bestaunen, Ausschau nach einem Bartgeier halten, mit einem Parkwächter diskutieren: Das sind Erlebnisse, die prägen.
Mit seiner vielfältigen Informationsarbeit bringt der Nationalpark den Besuchern die Natur näher. Geführte Exkursionen, Naturlehrpfade, Lehrerfortbildungskurse, Angebote für Kinder und Schulen, Ausstellungen, digitale Wanderführer, Publikationen und Vorträge sind Bausteine im Umweltbildungsprogramm.
Das Besucherzentrum in Zernez bietet eine Fülle von interaktiven, erlebnisorientierten Angeboten. Damit dient es Gross und Klein als idealer Ort für die Vor- und Nachbereitung einer Wanderung.
Nationalparkzentrum Zernez
Erleben, erfahren und entdecken, staunen und hinterfragen, mitgestalten: in den vier Ausstellungsräumen des Besucherzentrums nähert man sich dem Thema Nationalpark, seiner Fauna und Flora, seiner Geschichte, der unerschöpfliche Vielfalt der Natur auf ganz neue Art. Bereichert und inspiriert bricht man zur nächsten Nationalparkwanderung auf.
In Raum 1 in die Flora und Fauna eintauchen. Hautnah und spektakulär, so zeigen sich die Tiere des Nationalparks auf drei Grossleinwänden – gefilmt von Andreas Moser und seinem Netz-Natur-Team. Spüren der Kraft der Natur im Raum 2 – die nie endende Dynamik natürlicher Prozesse. Und welchen Einfluss hat der Mensch auf die Natur? Raum 3 widmet sich den unzähligen Spielarten dieser wechselvollen Beziehung. Eine Vision steht am Anfang jeder Pioniertat. In Raum 4 schauen wir zurück, um die Gegenwart zu verstehen. Den Schritt in die Zukunft wagen! Selber zum Pionier werden.
Wandern auf dem Naturlehrpfad
Der Naturlehrpfad im Gebiet Il Fuorn vermittelt Aspekte zur Ökologie des Nationalparks. Spezielle Juniorentafeln sind kindergerecht angeordnet. Der Rundgang beginnt beim Hotel Parc Naziunal Il Fuorn und dauert etwa 4 Stunden. Eine Begleitbroschüre ist für CHF 9.00 im Besucherzentrum erhältlich.
Wandern auf dem Kinderpfad Champlönch
«Ich zeige dir, was du nicht siehst» ist das Motto des Kinderpfads Champlönch. Dem geheimnisvollen Treiben der Hirsche auf Champlönch auf den Grund gehen, Säumer von anno dazumal bei ihren Gesprächen belauschen, die Wahrheit über Zwerge und Murmeltiere erfahren – das und vieles mehr bietet der Kinderpfad. Wandert eine Familie von P1 über Champlönch nach Il Fuorn, kann sie vorgängig im Nationalparkzentrum einen digitalen Wanderführer mit GPS ausleihen und ein Büchlein mit CD beziehen. Bei Parkplatz 1/Champlönch begrüsst Parkwächter Marchet die Kinder und bittet sie, ihn zu unterstützen. Entlang des Weges meldet sich das Gerät an 10 Standorten mit einem «kuckuck». Eine Figur oder ein Tier erscheint auf dem Display und erzählt eine interessante Geschichte, die mit der Umgebung in direktem Zusammenhang steht.
Wandern auf dem Bärenerlebnisweg in S-Charl
An neun interaktiven Stationen können Erwachsene und Kinder mit allen Sinnen erleben, wie es sich anfühlt, ein Bär zu sein. Praktische Tipps erläutern, wie man sich in einem Bärengebiet verhalten sollte. Die neue Postauto-Haltestelle Ravitschana erlaubt eine problemlose Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Der Weg endet nach knapp 2 Stunden beim Museum Schmelzra, wo zur idealen Ergänzung die Bärenausstellung des Nationalparks besucht oder im Freigelände mit dem Bärenspiel auf lustvolle Weise das persönliche Bärenwissen getestet werden kann.
Natur pur. WIssenswertes über den Nationalpark
Wer die farbenprächtige Alpenflora erleben möchte, wählt für einen Besuch die Monate Juni und Juli. In dieser Zeit lassen sich auch die meisten Jungtiere beobachten. Für hochgelegene Wanderungen wie zur Seenplatte von Macun oder über die Fuorcla Val Sassa eignen sich Juli und August am besten.
Die berühmte Hirschbrunft findet in der zweiten Hälfte September statt. Im Oktober schliesslich verwandeln die Engadiner Lärchen ihre Nadeln in leuchtendes Gold. Im Winter ist der Nationalpark geschlossen, damit die Tiere nicht in ihren Wintereinständen gestört werden.
Wildnisgebiete sind einzigartige Lehrstücke, um die Natur in allen ihren komplexen Wirkungsweisen kennen und verstehen zu lernen. Indem wir der Natur mit Respekt begegnen, tragen wir zum langfristigen Erhalt des Wildnis-Charakters bei und ermöglichen auch Generationen nach uns, Natur pur zu erleben.
Weitere Informationen:
Nationalparkzentrum Zernez
Telefon 081 851 41 41
www.nationalpark.ch
Weitere Tierpärke und Naturregionen in der Schweiz die im Herbst spannend sind:
Wandern im Berner Oberland - Auf den Spuren der Natur
Jurapark Aargau - Entdeckungsreise im Aargau
Waadtländer Jura und die Alpen mit die Seelandschaften
NATURZYT Ausgabe September 2013, Text Michael Knaus (NTZ), Hans Lozza (snp)