Auf dem Basler Friedhof Hörnli ist es ruhig und lebendig. Auf dem rund 50 Hektaren grossen Friedhofsgebiet leben nicht nur Rehe.
Auch wenn Rehe als scheu gelten und den direkten Kontakt zum Menschen vermeiden: In der Schweiz begegnet man ihnen im Alltag immer wieder. Bei einem Waldspaziergang überrascht man ein Rudel auf einer Lichtung, bei der Fahrt mit dem Auto steht ein Rehbock in unmittelbarer Nähe zur Fahrbahn, und Hausbesitzerbeobachten die Tiere, wie sie seelenruhig in ihrem Garten äsen. Nordöstlich von Basel, dort, wo das Stadtgebiet an die Gemeinde Riehen und an Deutschland grenzt, haben sich die Rehe ein auf den ersten Blick aussergewöhnliches Territorium als Lebensraum erschlossen: den Zentralfriedhof von Basel.
Auf dem Friedhof fühlen sich Wildtiere dank der Ruhe wohl
Diverse Gebäude im Wechsel mit Grabflächen, freistehenden Wiesen und kleinen Waldstücken unterteilen den Friedhof in zwölf Grabfelder und prägen den parkähnlichen Charakter der Anlage. Die Grabfelder unterscheiden sich sowohl durch ihre Anordnung als auch durch ihre Bepflanzung und grenzen sich durch kleine Wäldchen oder Alleen von einander ab. Und dort, wo der Friedhof an den Wald grenzt, oberhalb des Kolumbariums «im finsteren Boden», hat man einen wunderbaren Blick über Basel hinweg hinüber zu den französischen Vogesen.
Über 4000 Gräber befinden sich auf dem Friedhof. Neben verschiedenen Persönlichkeiten wie dem Kunsthistoriker Jacob Burckhardt, dem Theologen Karl Barth oder dem Basler Maler Alfred Heinrich Pellegrini gibt es auch ein Grab für russische Soldaten. Ein schlichter Stein mit 21 Namen und einem Stern erinnert im oberen Teil des Friedhofes an die jungen Männer, die noch in den letzten Kriegstagen ihr Leben lassen mussten.
Am 9. Mai 2015 jährte sich für die Russen das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal. Anlässlich dieses wichtigen russischen Feiertages trafen sich Militärs in steifen Uniformen, orthodoxe Poppen zusammen mit vielen Exil-Russen in stiller Andacht vor dem Grab, um der Gefallenen zu gedenken. Es wurden Reden gehalten, Gebete gesprochen und vor allem unzählige Kränze und Blumengebinde deponiert.
Rehe lieben die frischen Blumen nach der Beisetzung
Wohl keiner der Anwesenden – der anwesende Friedhofsverwalter mal ausgenommen – ahnte, dass er mit dieser Blumenpracht den hier lebenden Rehen ein Selbstbedienungsbuffet erster Wahl offerierte.
Und tatsächlich, am frühen Morgen des nächsten Tages labte sich ein erstes Reh an dem reichhaltigen Angebot. Als Wiederkäuer sind Rehe auf hochwertige pflanzliche Nahrung angewiesen. So knabberte das Reh verschleckt nur die blutroten Blütenköpfe der Rosen ab und verschmähte grüne Blätter und stachlige Stiele.
Ein ausgewachsenes Reh benötigt zwischen zwei und vier Kilogramm Futter pro Tag. Aber dank des üppigen Angebots hier auf dem Gottesacker können sie sich ein wählerisches Verhalten leisten, ohne darben zu müssen.
Über 100'000 Rehe leben in der Schweiz
Geschätzte 125 000 Rehe leben in der Schweiz und im Laufe der Zeit hat sich das Reh immer mehr unserer Kulturlandschaft angepasst. Ursprünglich war unsere kleinste, aber häufigste Hirschart in unseren Wäldern beheimatet. Als der Mensch anfing, den Wald zu roden, um zusätzliche Flächen für die Landwirtschaft zu gewinnen, profitierten die Rehe von dem neuen, reichhaltigen Nahrungsangebot. Waldränder, bewachsene Bachläufe und Hecken boten zudem ruhige Plätze zum Wiederkäuen und Ruhen. Bei Gefahr konnten sich die Rehe schnell in die nächste Deckung «drücken». Ihr Körperbau weist die typischen Merkmale des sogenannten Schlüpfertyps auf. Schmaler Kopf und Brustkorb, niedrige Schulterhöhe und das kleine Geweih der Böcke erlauben ihnen, sich leichtfüssig durch das Dickicht zwischen den Grabfeldern zu drücken, wo sie kaum zu sehen sind. Dank ihres ausgezeichneten Gehör- und Geruchssinns bemerken uns die Rehe schon lange, bevor wir sie sehen. Im Gegensatz dazu ist ihr Sehvermögen eingeschränkt. Rehe nehmen in erster Linie starke Helldunkel-Kontraste und Bewegungen wahr. Mehr als ein Mal hörte ich, lange bevorich die Tiere zu sehen bekam, das charakteristische kräftige Bellen, mit dem die Rehe ihre Artgenossen warnen.
Der jeden Tag reichhaltig gedeckte Tisch ist nur ein Grund, warum sich die Rehe auf dem Basler Friedhof so wohl fühlen. Weder streunende Hunde, Mountainbiker noch laut spielende Kinder sorgen bei der Rehpopulation für Störungen. Natürliche Feinde fehlen ebenso wie Jäger, die auf einen kapitalen Bock ansitzen. Die zahlreichen Friedhofsbesucher bewegen sich in aller Regel Ein Reh am Selbstbedienungsbuffet Distelfinken beim Schlemmen ruhig und in Gedanken versunken durch die Grabreihen. Die Angestellten der Stadtgärtnerei der Stadt Basel in ihren leuchtendgelbgrünen Überkleidern und die Rehe haben sich so aneinander gewöhnt, dass sie sich kaum mehr beachten.
Rehe gelten als sehr standorttreu und halten sich hier auf dem Friedhof Sommer wie Winter im gleichen Bereich auf. Im 50 Hektaren grossen Friedhofsgebiet leben zurzeit ca. ein Dutzend Rehe. Sie fühlen sich hier so wohl, dass auch dieses Jahr zwei Geissen Kitze geworfen haben. Steigt die Bestandsdichte durch eine hohe Geburtenrate, suchen sich einige Tiere einen neuen Lebensraum ausserhalb des Friedhofes.
Biodiversität auf dem Friedhof
Aber nicht nur die Rehe haben das Habitat Friedhof erschlossen. Vertreter aus der Familie der Spechtvögel wie Bunt, Grünoder sogar Schwarzspecht nisten im Gebiet. Singvögel, wie verschiedene Meisen, Stare und Kleiber, haben ihre Bruthöhlen in den Astlöchern der Alleebäume eingerichtet. Neben dem Zaunkönig fühlt sich auch der kleinste Vogel Europas, das Wintergoldhähnchen, hier wohl.
In den Ritzen der alten Steinmauern tummeln sich Eidechsen, und das ausgiebige Angebot an frischen Blumen lockt unzählige Käfer, fleissige Bienen und farbenprächtige Schmetterlinge an. Auf einer der oberen freien Wiesenflächen findet man gar einen Fuchsbau, der im Moment allerdings nicht bewohnt zu sein scheint. Vor einigen Jahren sorgte selbst ein Dachs für Aufregung, da er seinen Bau ausgerechnet unter einer massiven Grabplatte anlegte und so für akute Einsturzgefahr sorgte. Im Herbst findet man allerlei Pilze. Darunter den aus Neuseeland oder Australien eingeschleppten Tintenfichpilz, der seine Tentakel – nomen est omen – über den Waldboden ausbreitet.
Aber es gibt auch Stimmen, die sich über die Rehe, die den frischen Grabschmuck immer wieder abfressen, ärgern. Entsprechende Beschwerden bei der Friedhofsverwaltung führten dazu, dass die Rehe in bestimmten Abschnitten mit übelriechender Buttersäure vergrämt werden. Wirklich stören lassen sich Rehe dadurch aber nicht. Dass sie den Friedhof schon seit vielen Jahren als ihr Territorium in Anspruch nehmen, belegen Gräber, die statt von einem Grabstein von einer Skulptur aus Bronze mit ein oder zwei Rehen geschmückt werden.
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Waldohreule - lautlose Jägerin in der Schweizer Nacht
Im Schnee zu Hause - das Schneehuhn
NATURZYT Ausgabe Dezember 2020, Text / Fotos Stefan Leimer