Der Rombach im Val Müstair ist hierzulande einer der letzten frei fliessenden Bergbäche. Seinem wilden und blumenübersäten Ufer entlang führt eine der schönsten Flusswanderungen der Schweiz.
Früher oder später ereilt jeden grösseren Schweizer Fluss dasselbe Schicksal: Er endet in einer Wasserfassung oder einem Stausee und wird zur Stromproduktion genutzt. Übrig bleibt ein Rinnsal, im Fachjargon Restwassermenge genannt. Ein Fluss jedoch tanzt aus der Reihe: der Rombach im Val Müstair, dem Bündner Tal in der südöstlichsten Ecke der Schweiz. Besonders im Frühjahr zur Schneeschmelze setzt er sich lautstark und wassergewaltig in Szene, kein Hindernis unterbricht seinen Lauf. Die Münstertaler hatten in den 90er-Jahren nach langem Hin und Her entschieden, statt des Rombachs drei seiner Seitenbäche zur Energieerzeugung zu nutzen. Der Rom mit seinem Auengebiet von nationaler Bedeutung sollte erhalten bleiben. Und nicht nur das: Der Rombach ist auch aus seinem künstlichen Korsett befreit und revitalisiert worden. Nun darf er sich frei entfalten, Moore und Schwemmgebiete bilden, Kiesbänke und Seitenarmen formen, der Wasseramsel und der Bachforelle ein Zuhause bieten und einen ausgesprochen üppigen Blumengarten mit vielen Orchideen und seltenen Tamarisken sein Eigen nennen.
Wilde, unberührte Urlandschaft des Schweizerischen Nationalparks
So viel wilde und einzigartige Flussnatur soll allen zugänglich sein. Haben sich Pro Natura und der Regionale Naturpark Biosfera Val Müstair gesagt und einen Themenweg eingerichtet, von der Quelle des Rom bei Tschierv bis zu seinem Grenzübertritt nach Italien bei Müstair. Die Route verläuft, mit kurzen Unterbrüchen, direkt am Wasser, was einem ein intensives Flusserlebnis beschert.
Ins Val Müstair geht es mit dem Postauto von Zernez durch die wilde, unberührte Urlandschaft des Schweizerischen Nationalparks. Hat der Bus den Ofenpass passiert und schraubt sich die vielen Kurven nach Tschierv hinunter, ändert das Landschaftsbild. Das Val Müstair ist offen, hell und sanft. Auf den Wiesen stehen die Blumen kniehoch, die Wälder leuchten in sattem Grün, darüber thronen die im Frühling noch schneebedeckten Gipfel von Piz Daint, Piz Dora, Piz Turettas und Co. Im Talboden wohnen die Menschen: in schmucken, charakteristischen Dörfern, in denen sich sgraffitoverzierte Häuser aneinanderreihen, Blumen vor den Fenstern blühen und Kühe sich am frischen Gras sattfressen. «Süsom Tschierv» heisst die Bushaltestelle, an der die Rombach-Wanderung «801 – a la riva dal Rom» beginnt. 14 Kilometer liegen vor uns bis zur Landesgrenze bei Müstair. Das grüne Routenschild mit der Nummer 801 wird uns zuverlässig leiten.
Auf der Alp da Munt lebten einst Dialas
Nach wenigen Minuten stehen wir an der Quelle des Talflusses und staunen, dass aus dem Boden ein stattlicher Bach schiesst. Das hat seinen Grund: Weiter oben am Berg, im Karstgebiet der Alp da Munt, sammelt sich viel Wasser. Es fliesst unterirdisch zur Quelle, durch ein komplexes System aus Höhlen und Gängen. So viel Komplexität hat früher die Fantasie der Menschen angeregt.
Es wird berichtet, dass in den Höhlen der Alp da Munt einst Dialas lebten, weibliche Wesen mit Ziegenfüssen. Die Dialas assen aus goldenem Geschirr und trugen Kleider aus schneeweissem Linnen. An einem schönen Sommertag hängten sie die frisch gewaschenen Kleider zum Trocknen zwischen die Felsen und halfen danach den Bauern beim Heuen. Zwei Frauen aus Tschierv nutzten die Gunst der Stunde, entwendeten zwei schneeweisse Laken und versteckten sie im Heu. Als die Dialas den Raub bemerkten, donnerte es fürchterlich im Tal, und ein Erdbeben begrub das Dorf unter sich. Die Dalas wurden nie wieder gesehen. Ein grasbewachsener Fels mitten im Ort erinnert noch heute an das Ereignis.
Von Beginn weg macht der Rombach, was er will. Er breitet sich aus, bildet mit dem Flachmoor «Prà dal Vegl» das erste Sumpfgebiet und knabbert bald an unserem Weg und an den Schuhen. Eine gute halbe Stunde nach dem Start, in der weiten Ebene vor Fuldera, zeigt sich, was Revitalisierung heisst. Im ehemaligen Sumpfgebiet Palü dals Lais wurde der Rom während des Zweiten Weltkriegs in einen Kanal gezwängt, um Weidefläche zu gewinnen. Doch das Land verwässerte zusehends, der Fluss hatte zu wenig Platz. Also drehte man den Spiess um: Der Rom erhielt ein breites Flussbett, das er selbst gestaltet, die Wiesen wurden aufgeschüttet. In den Tümpeln und Biotopen am Wasser sollen sich wieder Amphibien und Fische ansiedeln, die Bachgrundel etwa, die einst im Tal heimisch war.
In den Lärchenwälder im Val Müstair leben Kühe
Bei Fuldera begegnet uns eine weitere Besonderheit des Tals: Lärchenwälder, in denen Kühe weiden. Die sogenannten Weidewälder werden im Val Müstair seit Generationen gepflegt, sie bieten vielen Tieren und Pflanzen wertvollen Lebensraum. Um lauschige Plätze bemüht sein muss man am Rom ohnehin nicht. Nach Valchava laden Sitzbänke und Feuerstellen zur Rast, ein klapperndes Wasserrad macht dem Bach Konkurrenz, eine Kiesbank im Fluss weckt den Entdeckergeist und bei Sta. Maria staunen wir ob der Kraft des Flusses, die Auenlandschaft ständig neu zu gestalten. Die vielfältige Aue ist von nationaler Bedeutung und steht unter Schutz.
Dem Rombach könnte man ewig entlangwandern, ob der vielen Blumen staunen, dem Lauf des Wassers zuschauen und sich ob der unverfälschten Natur erfreuen. In Müstair jedoch ist die Flusstour zu Ende; wer Geduld hat und Glück, erspäht bei der Brücke beim Spielplatz im revitalisierten Bachbett zum Abschied noch eine Wasseramsel. Sie ist der einzige Singvogel, der nicht nur geschickt schwimmen, sondern auch hervorragend tauchen kann. Unser Erlebnishunger indes ist noch nicht gestillt. Also nichts wie hin zum Kloster Son Jon, einem Unesco-Welterbe. Der Besuch im kühlen, 1200 Jahre alten Benediktinerinnenkloster ist eine Reise in eine ferne Zeit.
Tipps und Informationen zur Wanderung durchs Val Müstair
Wanderroute: Bushaltestelle Süsom Tschierv – Fuldera – Valchava – Santa Maria – Müstair. Der Weg «801 – A la riva dal Rom» verläuft mit wenigen Ausnahmen direkt am Wasser.
Variante: Die Tour kann in jedem Dorf begonnen oder beendet werden.
Anforderungen: Die Wanderung stellt keine besonderen Herausforderungen und eignet sich auch für Familien. Die Wanderzeit beträgt rund 4,5 Stunden.
An- und Rückreise: Mit dem Zug nach Zernez, dann mit dem Postauto nach Süsom Tschierv. Zurück ab Müstair Clostra Son Jon. Das Auto parkiert man am besten in Tschierv.
Einkehr: In allen Dörfern entlang der Wanderung.
Karten: Swisstopo-Wanderkarte 1:50 000, Blatt Nationalpark (459T); Swisstopo- Landeskarte 1:25 000, Blätter Santa Maria (1239) und Müstair (1239 bis).
Weitere Informationen: Broschüre «A la riva dal Rom», erhältlich beim Naturpark Biosfera Val Müstair und in den Tourismusbüros Tschierv und Müstair.
Buchtipp: Mitte April 2018 erscheint im Rotpunktverlag, Zürich, der Wanderführer «Wanderwelt Val Müstair» mit 20 Wanderungen und Bergtouren sowie 10 Wintertouren zwischen Ofenpass und dem historischen Südtiroler Städtchen Glurns. Das Buch enthält zudem viele Hintergrundinformationen zu Natur, Kultur, Geschichte, Wirtschaft und Lebensweise im Val Müstair. Autoren des Wanderführers sind Andrea Kippe und Daniel Fleuti.
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NATURZYT Ausgabe März 2018, Text, Fotos Daniel Fleuti