Noch vor 50 Jahren eine seltene Erscheinung, ist der Rotmilan bei uns zu einem gewohnten Anblick am Himmel geworden. Sein Brutbestand hat sich in der Schweiz deutlich vergrössert. Damit hebt er sich vom allgemeinen Trend des Artenschwunds ab.
Der grosse, auffällig rostrot gefärbte Greifvogel gleitet bedächtig über die Wohnquartiere – Blick immer nach unten. Manchmal scheint es, als wolle er jeden Strassenzug, jeden Garten ausspähen. Hält er Ausschau nach einer unvorsichtigen, sich sonnenden Eidechse oder hat er es auf einen überfahrenen Singvogel abgesehen? In der Tat ist der Rotmilan zu einem gewohnten Anblick geworden – auch im Siedlungsgebiet. Das war nicht immer so. Ältere Ornithologen und Vogelbeobachter berichten oft, dass der Rotmilan vor 50 Jahren noch zu den seltenen Beobachtungen zählte.
Ein Blick in den Historischen Brutvogelatlas der Vogelwarte bestätigt diese Entwicklung. In den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts brüteten gerade mal 90 Rotmilan-Paare in der Schweiz. Sie waren damals nur im zentralen Mittelland etwa zwischen Bern und Schaffhausen vertreten. In den folgenden Jahrzehnten war nicht nur eine Steigerung der Brutbestände, sondern auch eine gebietsmässige Ausbreitung des Rotmilans feststellbar. Die neusten Erhebungen für den im November 2018 erscheinenden «Brutvogelatlas 2013-2016» zeigen, dass der Rotmilan heute das ganze Mittelland und Voralpengebiet zwischen Bodensee und Genf nahezu lückenlos besetzt. Zudem hat er sich auch in die Alpentäler ausgebreitet. Den Brutbestand schätzt man zwischenzeitlich auf maximal 3500 Paare. Einzig im Tessin sowie in den Walliser und Bündner Südtälern fehlt er als Brutvogel vollständig. Ein Rotmilan am Luganersee wäre somit während der Brutzeit noch immer eine seltene Beobachtung.
Erfreuliche Bestandesentwicklung des Rotmilans
Der Rotmilan schwimmt resp. fliegt damit gegen den Strom. Während viele Vogelarten in den letzten Jahrzehnten teilweise drastische Bestandseinbrüche erlitten, scheint es dem Rotmilan – zumindest in der Schweiz – richtig gut zu gehen. Doch was sind die Gründe für diese untypische Entwicklung? Zur Klärung dieser Frage lancierte die Schweizerische Vogelwarte ein Forschungsprojekt. Einige Faktoren sind indessen schon bekannt. Teilweise profitiert der Rotmilan von Veränderungen in seinem Umfeld, welche andere Vogelarten in Bedrängnis bringen. Zwei Beispiele: Während die immer häufigere und frühere Mahd für wiesenbrütende Arten ein Gefährdungspotenzial darstellt, verbessert dies für den Rotmilan den Zugriff auf Beutetiere wie Mäuse, Käfer und Würmer, die zu seiner Lieblingsnahrung gehören. Die stetige Zunahme des Strassenverkehrs fordert immer mehr Opfer unter Wildtieren und Vögeln – als Aasfresser profitieren der Rotmilan und andere Greifvögel davon. Sie gehen jedoch beim Einsammeln der überfahrenen Tiere ein hohes Risiko ein, selber unter die Räder zu kommen.
Rotmilan verändert Zugverhalten
Auch die Klimaveränderung trägt indirekt zum Schutz des Rotmilans bei. Früher war der Rotmilan als Zugvogel bekannt. Als Kurzstreckenzieher verbrachte er den Winter vorwiegend in Spanien. Für die nördlichen Populationen gilt dies heute noch. Seit die Winter bei uns milder geworden sind, bleiben viele von ihnen hier und beziehen nachts gemeinsame Schlafplätze auf Bäumen. Ziehende Vögel setzen sich einem erhöhten Risiko aus, viele sterben unterwegs vor Hunger und Erschöpfung resp. im Kugelhagel von Vogeljägern. Entscheidender Faktor, ob eine Vogelart wegzieht oder im Brutgebiet bleibt, ist die Verfügbarkeit von Nahrung im Winter. Vogelarten oder einzelne Populationen ändern ihr Zugverhalten über Generationen hinweg, wenn sich die äusseren Bedingungen verändern. Beim Rotmilan hat man herausgefunden, dass er das Zugverhalten sogar in seinem Lebenszyklus ändert. So ziehen 90 Prozent der Jungvögel im ersten Herbst in den Süden, während ältere Vögel meist im Brut gebiet ausharren. In milden Wintern findet der Rotmilan genügend Nahrung in Form von Mäusen, Würmern und Aas. Ist der Boden jedoch über längere Zeit schneebedeckt und gefroren, wird es eng für die Greifvögel. Dann tritt oft der Mensch als «Helfer in der Not» in Aktion. Traditionellerweise werden hierzulande für die Greifvögel meist von Privatpersonen an verschiedenen Orten Schlachtabfälle ausgelegt. Das zieht auch Mäusebussarde und Rabenvögel an, die sich mit den Rotmilanen um das Futter streiten.
Rotmilan aus Kollisionskurs mit Windkraftanlagen
Eine Besonderheit des Rotmilans ist sein relativ kleines Verbreitungsgebiet. Es beschränkt sich im Wesentlichen auf Zentral-, West- und Südwesteuropa. Der Verbreitungsschwerpunkt der Art liegt in Deutschland, wo über die Hälft e des weltweit auf maximal 29 000 Brutpaare geschätzten Bestands brütet. Daneben gibt es grössere Brutvogelbestände in Frankreich, Spanien, Italien, Grossbritannien und der Schweiz.
Doch ausgerechnet in Deutschland droht dem Rotmilan Gefahr. Nach den ebenfalls in den letzten Jahrzehnten erfolgten erfreulichen Bestandsausweitungen ist nun eine Umkehr des Trends feststellbar. Die Ursache liegt einerseits in der Intensivierung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern mit starker Förderung des Maisanbaus. Mais- und Getreideanbau verhindern jedoch für die gerne über offene Äcker und Wiesen jagenden Rotmilane den Zugriff auf ihre Beutetiere. Andererseits spielt der massive Ausbau der Windenergienutzung dem Rotmilan böse mit. Er teilt dieses Schicksal mit dem Mäusebussard, der jedoch in weit grösserer Zahl vorkommt, wie auchmit selteneren Greifvögeln wie Weihen und Schreiadler.
Längst ist der Rotmilan in Deutschland zu einem Symboltier für den Kampf von Vogelschützern gegen den schrankenlosen Ausbau von Windkraft anlagen geworden. Erst in jüngerer Zeit wurden konkrete Untersuchungen über die Zahl von «Schlagopfern» von Windkraftrotoren durchgeführt. Zwar liegen die Opferzahlen beispielsweise bei Stockenten und Ringeltauben noch weit höher, jedoch ist die Auswirkung auf die Populationen bei den Greifvögeln viel gravierender. Die erstgenannten Arten gehören nämlich zu den «schnellen Brütern», d.h., sie erzeugen jährlich eine grosse Zahl von Nachkommen und können damit auch plötzlich auftretende Verluste besser kompensieren. Greifvögel jedoch stehen an der Spitze der Nahrungskette und haben kaum natürliche Feinde. Sie haben eine andere Strategie der Familienplanung: späte Geschlechtsreife und wenige Junge pro Jahr. Dies macht sie empfindlicher gegenüber künstlichen, von Menschen verursachten Bedrohungen. Die heute bekannten Opferzahlen, kombiniert mit der langsamen Fortpflanzungsrate und dem geplanten weiteren Ausbau der Windkraft , ergeben ein relativ düsteres Bild für die Zukunft der genannten Greifvögel. Ohne zusätzliche Schutzmassnahmen dürft en im Jahr 2040 sowohl Rotmilan als auch Mäusebussard in Deutschland deutlich tiefere Bestands zahlen aufweisen als heute. Es sei denn, sie lernen künftig, die Gefahren dieser Anlagen besser einzuschätzen. Hierbei sind jedoch Greife deutlich träger als etwa die schlauen Rabenvögel. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft für Menschen, welche die Energiewende und den Ausbau der erneuerbaren Energien befürworten, sich aber auch Sorgen machen um den Fortbestand der Arten. Insbesondere in der Schweiz, wo der Windenergieausbau noch in den Anfängen steckt, ist eine sorgfältige Interessenabwägung angezeigt.
Der Rotmilan vs Schwarzmilan
… gehört zu den schönsten einheimischen Greifvögeln. Sein farbenprächtiges Federkleid kommt bei Sonnenlicht besonders zur Geltung, die rostrote Färbung sticht sofort ins Auge. Die hellen Partien an den Flügelunterseiten bezeichnet man als «weisse Fenster». Sein Kopf ist hellgrau und weist eine feine dunkle Längsstrichelung auf. Das helle Auge erkennt man meist nur mit dem Fernglas. Er ist nach dem Bartgeier und Steinadler der drittgrösste in der Schweiz brütende Greifvogel mit einer Flügelspannweite von 140 bis 170 Zentimetern.
Der Schwanz des Rotmilans ist tief gekerbt, daher kommt der Name «Gabelschwanz». Früher bezeichnete man den Milan auch als «Gabelweihe». Rotmilane steuern kaum mit den Flügeln, sondern setzen ihren Gabelschwanz ein, den sie bei Änderung der Flugrichtung seitlich abkippen.
Der Speisezettel der Rotmilane ist vielseitig, sie ernähren sich von Kleinsäugern wie Mäusen, Kleinvögeln, Würmern, Insekten und Aas. Ab und zu packen sie auch Fische, Amphibien und Reptilien. Wenn ein Landwirt ein Feld pflügt, kann man manchmal Milane, Mäusebussarde, Möwen und oft auch Störche beobachten, wie sie hinter dem Pflug herschreiten und in der umgewälzten Erde nach Nahrung suchen, ein herrliches Spektakel!
Der Rotmilan ist wie viele grosse Greifvögel ein Gleitflieger. Er nutzt geschickt die Thermik, um lange Zeit ohne Flügelschlag über die Landschaft zu segeln. Zur Brutzeit vollführen die Paare richtige Kunstflüge und äussern häufig ein wieherndes Trillern. Pro Jahr ziehen sie höchstens eine Brut auf. Der Horst wird auf einem kräftigen Baum 10 bis 30 Meter über dem Boden gebaut. Das Weibchen legt zwischen Ende März und Mitte April meist zwei Eier und benötigt rund 34 Tage zum Ausbrüten. Nach dem Schlüpfen füttert das Männchen die ganze Familie, während das Weibchen die kleinen Nestlinge noch hudert. Später schafft auch das Weibchen Nahrung herbei. Die Sterblichkeitsrate ist wie bei allen Jungvögeln gross, der Rotmilan kann aber über 20 Jahre alt werden.
Ein naher Verwandter des Rotmilans ist der Schwarzmilan. Er ist ein echter Zugvogel, denn er überwintert im südlichen Afrika und kommt nur zur Brutzeit zurück nach Europa.
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NATURZYT Ausgabe Dezember 2018, Text/Fotos Beni Herzog