Einst verfolgt und ausgerottet, segelt der Bartgeier nun wieder über die Schweizer Alpen: Die Wiederansiedlung des majestätischen und faszinierenden Vogels ist eine Erfolgsgeschichte.
Winter – für Pflanzen und Tiere die Zeit, sich zurückzuziehen und Energien zu sparen. Nicht so für die Bartgeier: Für sie sind die Wintermonate eine geschäftige Zeit, in der sie sich paaren, Eier legen und Küken aufziehen. Dass die Bartgeierküken ausgerechnet im Spätwinter schlüpfen, wenn in den Bergen noch meterhoch Schnee liegt, macht durchaus Sinn. Denn als Knochenfresser finden die imposanten Vögel im März und April einen reich gedeckten Tisch vor: Fallwild, das einer Lawine oder dem Hunger zum Opfer gefallen ist, ermöglicht den Bartgeiereltern die Aufzucht ihres Kükens. Bartgeier ziehen nur ein Jungtier pro Jahr auf, für mehr würde die Nahrung nicht reichen. Allerdings legen Bartgeier häufig zwei Eier, jedoch in einem Abstand von etwa einer Woche. Wenn also das zweite Küken schlüpft, hatte das erste Küken eine Woche lang Zeit, gefüttert zu werden und zu wachsen. Es ist dann entsprechend grösser als das zweite Küken und tötet es. Was für unsere Ohren brutal tönt, ist für die Bartgeier eine notwendige Überlebensstrategie. Denn es kann vorkommen, dass das erste Ei nicht befruchtet ist, das Küken an einer Infektion stirbt oder von Kolkraben gefressen wird. In einem solchen Fall verfügen die Bartgeiereltern mit dem zweiten Ei über einen «Plan B», also eine biologische Versicherung, die es ihnen erlaubt, trotzdem ein Küken aufzuziehen.
In Zuchtstationen wie dem Natur- und Tierpark Goldau werden befruchtete «Plan-B-Eier» natürlich nicht ihrem Schicksal überlassen, dazu sind sie zu kostbar. Stattdessen werden sie anderen Zuchtstationen abgegeben, in denen Brutpaare kein befruchtetes Ei gelegt haben. Zum Beispiel jenem Bartgeierpaar, das aus zwei Männchen besteht, die zusammen alljährlich sorgsam ein Küken aufziehen.
Auch Mascha und Hans, ein Bartgeierpaar im Natur- und Tierpark Goldau, sind äusserst zuverlässige Eltern. Seit zehn Jahren ziehen sie umsichtig und verantwortungsvoll jeweils ein Jungtier auf, das im Alter von etwa drei Monaten ausgewildert wird.
Bartgeier, Lämmergeier, Chindlifresser
Auswilderungen erfolgen seit 1986. Sie waren nötig geworden, weil um 1900 der Bartgeier in den Alpen vollständig ausgerottet war. Zum einen waren die Bestände von Huftieren wie Steinböcken oder Hirschen massiv zurückgegangen, sodass für den Bartgeier nur noch wenig Aas anfiel. Zum andern aber wurde der Bartgeier auch rücksichtslos verfolgt durch Jäger und Trophäensammler. Das schlechte Image des Bartgeiers mag seinen Teil beigetragen haben. So wurde ihm nachgesagt, Lämmer und sogar Kleinkinder zu entführen – Schauermärchen, die ins Reich der Mythen und Legenden gehören. Trotzdem wurden sie verbreitet und brachten dem Bartgeier wenig schmeichelhafte Namen wie «Lämmergeier» oder «Chindlifresser » ein. Sehr zu Unrecht, denn der Bartgeier ist ein reiner Aasfresser, der sich auf Knochen spezialisiert hat: 70 bis 90 Prozent seiner Nahrung bestehen aus Knochen, die am Stück verschluckt und von der starken Magensäure verdaut werden. Was uns wie eine etwas einseitige Ernährungsweise anmutet, versorgt den Bartgeier mit allen lebenswichtigen Inhaltsstoffen: Knochen enthalten Eiweiss, Fett, Mineralstoffe und Wasser.
Ist ein Knochenstück zu gross, packt der Bartgeier es mit seinen Krallen, schraubt sich in die Höhe und lässt den Knochen auf eine Felsplatte oder eine Geröllhalde fallen, bis er in schnabelgerechte Stücke zersplittert. Dieses Verhalten ist angeboren, allerdings gilt auch für junge Bartgeier: Übung macht den Meister. Ebenfalls aus Unkenntnis über die Lebensweise des Bartgeiers wurde kolportiert, er färbe seine Federn, indem er sich im Blut getöteter Tiere wälze. Tatsächlich färbt der Bartgeier sein Gefieder ockerfarben ein, indem er sich in eisenoxidhaltigem Schlamm wälzt. Jahrzehntelang lebten keine Bartgeier mehr in den Alpen. Vor 36 Jahren wurde deshalb ein internationales Projekt ins Leben gerufen, das sich zum Ziel setzte, die imposanten Vögel wieder in den Alpen anzusiedeln. Eine erste Aufgabe bestand darin, die Bevölkerung über die Lebensweise des harmlosen Tieres aufzuklären, um so seine Akzeptanz zu erhöhen. So leben im Natur- und Tierpark Goldau heute noch Schneehasen in der Bartgeier-Voliere, als Beweis, dass er sich nicht für lebende Tiere interessiert. In einem weiteren Schritt wurde ein ambitiöses Zuchtprogramm auf die Beine gestellt. Die dafür nötigen Gründertiere stammten aus gesunden Populationen in den Pyrenäen oder im Kaukasus. Seit 1986 werden nun jedes Jahr in Gefangenschaft geborene Jungvögel in wildreichen Gebieten mit steilen Felswänden ausgesetzt, zum Beispiel im österreichischen Nationalpark Hohe Tauern, im italienischen Nationalpark Stilfserjoch, in Hochsavoyen, im italienisch-französischen Grenzgebiet von Argentera- Mercantour, aber auch im Schweizerischen Nationalpark und im sankt-gallischen Calfeisental.
Streifzüge der Junggeier verfolgen
Bevor ein junger Bartgeier im Alter von etwa drei Monaten in die Natur entlassen wird, wird sein Blut untersucht, damit Geschlecht und DANN bestimmt werden können. Einzelne Schwungfedern werden nach einem vorgeschriebenen Muster gebleicht. Auf diese Weise können die Jungtiere bis zur ersten Mauser im Flug identifiziert werden. Zudem werden sie mit einem kleinen Sender ausgerüstet, der über Satellit geortet werden kann. So lassen sich die ausgedehnten Streifzüge der Junggeier verfolgen.
Bei der Freisetzung in einer Felsnische sind die jungen Bartgeier noch nicht flugfähig. Sie werden deshalb ohne Menschenkontakt gefüttert und rund um die Uhr beobachtet. Nach den ersten Flugversuchen wird noch so lange Futter im Gelände angeboten, bis die Jungtiere sich selber ernähren können. Über 200 Bartgeier konnten auf diese Weise in den letzten 28 Jahren im Alpenbogen freigesetzt werden. Die bereits ausgewilderten Tiere helfen inzwischen auch tatkräftig mit, die Bartgeier-Population in den Alpen zu vergrössern: Über 100 Küken sind nun schon in Freiheit geschlüpft. Allein in der Schweiz sorgten 2014 acht wildgeschlüpfte Jungvögel für einen tüchtigen Wachstumsschub.
Genetische Abstammung der Wildbruten
Die erfreuliche Entwicklung des Wiederansiedlungsprojekts ist aber für die Initianten kein Grund, die Hände in den Schoss zu legen. Denn zwar steigt die Anzahl der Wildbruten, nicht aber deren genetische Vielfalt. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Gene einiger Gründertiere überrepräsentiert sind. Deshalb wird nun bei Auswilderungen besonderer Wert gelegt auf die genetische Abstammung: Nachwuchs von Gründertieren, deren Gene in der Wildpopulation bisher nicht oder kaum vertreten sind, werden vermehrt berücksichtigt. Nicht mehr die Anzahl der Auswilderungen wird in Zukunft also massgebend sein, sondern die gezielte Auswilderung mit seltenen genetischen Linien.
Um die Besiedlung der Alpen durch die Bartgeier nicht nur genetisch, sondern auch räumlich zu fördern, werden im kommenden Frühsommer erstmals Bartgeier in der Zentralschweiz ausgewildert. Im eidgenössischen Jagdbanngebiet Huetstock in der Gemeinde Kerns OW werden die jungen Geier eine neue Heimat finden. «Muss die Rückkehr von Arten immer einen direkten Nutzen haben?», fragt der Jahresbericht der Stiftung Pro Bartgeier und liefert die Antwort gleich selber: «Das grosse Engagement, mit dem seit Jahrzehnten für die Rückkehr der Bartgeier in die Alpen gearbeitet wird, beweist, dass einfach die Faszination und Freude an einem eindrücklichen Wildtier und vielleicht auch der Wunsch nach einer Wiedergutmachung an der Natur wichtige Triebfedern im Artenschutz sind. Wer einmal einen wildfliegenden Bartgeier von Nahem beobachtet hat, ist fasziniert von der Schönheit und Grösse dieser Art.»
Fotos Daniel Kühler, Natur- und Tierpark Goldau, David Riedener, Claudia Wartmann
Bartgeier-Beobachtungen
Die grösste Chance, einen wildlebenden Bartgeier zu beobachten, besteht an den Auswilderungsorten. Nach der Auswilderung (Ende Mai / Anfang Juni) und dem Flüggewerden verbringen die Jungtiere im Juli und August den grössten Teil ihrer Zeit noch in unmittelbarer Umgebung des Auswilderungsplatzes. Später unternehmen sie zwar weite Erkundungsflüge, kehren häufig aber wieder zu ihrem Freilassungsort zurück und paaren sich auch dort.
Gute Chancen bestehen auch in Gegenden, wo sich viele Brutpaare aufhalten, zum Beispiel im Engadin. Besonders im Schweizerischen Nationalpark können Wanderer damit rechnen, ab und zu einen Bartgeier zu sichten. Wichtig: Bitte versuchen Sie nicht, Ihrem Beobachtungsglück nachzuhelfen, indem Sie Bartgeier mit ausgelegtem Futter anlocken! Dies kann das Überleben der Tiere gefährden.
Manchmal überfliegen Bartgeier Wanderer sogar in geringer Höhe, denn sie sind neugierig und wenig scheu. Trotzdem empfiehlt es sich, einen guten Feldstecher auf sich zu tragen, um den Vogel auch auf Distanz besser identifizieren zu können. Melden Sie Ihre Beobachtungen der Stiftung Pro Bartgeier (online-Meldeformular unter www.bartgeier.ch > Bartgeier unterwegs > und ausserdem). Besonders wertvoll sind Fotos sowie Angaben zu beobachteten Markierungen sowie zu Besonderheiten des Gefieders. Diese Angaben sind für das Monitoring der Tiere wichtig. Mit etwas Glück können die Bartgeier-Spezialisten herausfinden, welches Individuum Sie gesehen haben, und erhalten so grundlegende Daten zum Überleben der ausgewilderten Bartgeier.
Auf der Homepage der Stiftung Pro Bartgeier finden Sie Neuigkeiten zu einzelnen Tieren sowie Karten mit den aktuellen Streifzügen der jungen Bartgeier: www.bartgeier.ch > Bartgeier unterwegs > Streifzüge.
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NATURZYT Ausgabe Dezember 2014, Text Claudia Wartmann, Fotos Daniel Kühler, Natur- und Tierpark Goldau, David Riedener, Claudia Wartmann