Schnee, Wind und Kälte können das Schneehuhn nicht wirklich beeindrucken: Dank einer perfekten Anpassung an die unwirtlichen Bedingungen im Hochgebirge lebt es als einzige Vogelart auch im Winter oberhalb der Waldgrenze.
Der wissenschaftliche Name will nicht so recht passen: Lagopus muta, so lautet der lateinische Name des Alpen-Schneehuhns. «Lagopus» ist ein altgriechisches Wort, zusammengesetzt aus «Lagos» (Hase) und «Pous» (Fuss). Das Schneehuhn wäre demnach ein «Hasenfuss». Und erst noch ein stummer dazu, denn das lateinische «mutus» bedeutet so viel wie stumm, lautlos. Da die Ängstlichkeit von Hasen geradezu sprichwörtlich ist, hat sie sich auch sprachlich niedergeschlagen. Ein Hasenfuss ist nämlich jemand, dem Ängstlichkeit, ja sogar Feigheit nachgesagt wird. Das Alpen-Schneehuhn aber ist alles andere als ein Hasenfuss. Wer den Winter bei grimmiger Kälte und eisigen Winden oberhalb der Waldgrenze überlebt, darf wohl kaum als ängstlich oder feige bezeichnet werden. Tatsächlich bezieht sich der wissenschaftliche Name nicht auf eine Charaktereigenschaft oder Verhaltensweise, sondern auf eine äusserliche Ähnlichkeit, die allen sogenannten Raufusshühnern eigen ist: Die Läufe und Zehen des Vogels sind so dicht befiedert, dass sie einem behaarten Hasenfuss ähneln. Im Winter sind die Federn an den Schneehuhn-Zehen besonders dicht, sodass die vergrösserte Oberfläche zu einem Schneeschuh-Effekt führt. Dies erleichtert die Fortbewegung im Schnee enorm und reduziert dadurch den Energieverbrauch.
Das Schneehuhn ist im Winter gut vor Kälte geschützt
Wer im lebensfeindlichen Klima über der Waldgrenze überleben will, muss mit seiner Energie haushälterisch umgehen. Dem Schneehuhn helfen dabei nicht nur die «Schneeschuhe» an den Füssen, sondern auch das dichte Wintergefieder. Dank kleiner, daunenartiger Nebenfedern entstehen zwischen den Federn Luftkammern, die hervorragend isolieren und so unnötigen Wärmeverlust verhindern. Ja, das Gefieder gibt so warm, dass das Schneehuhn an besonders milden Wintertagen sogar an den Schatten flüchten muss. Eine weitere Strategie gegen die Kälte ist – so widersprüchlich dies auchklingen mag – der Schnee. Kommt der grosse Schnee, lässt sich das Schneehuhn einfach einschneien. Oder es gräbt sich eine Schneehöhle, die Schutz bietet vor Wind, Kälte und Raubfeinden. Dank der isolierenden Wirkung des Schnees fallen die Temperaturen im Innern des «Iglus» kaum unter den Gefrierpunkt, selbst wenn ausserhalb der Höhle Temperaturen im zweistelligen Minusbereich herrschen. Die Schneehöhlen befi nden sich meist an schattigen Nordhängen, wo der Schnee tiefer und pulvriger ist. Hier gräbt sich das Schneehuhn in kürzester Zeit einen bis zu einem Meter langen Tunnel oder eine 20 Zentimeter tiefe Mulde. Es gibt sogar Beobachtungen von Schneehühnern, die sich mit dem Kopf gegen den Wind gerichtet in eine Senke legten, die durch eine menschliche Fussspur entstanden war. Gegen Tagesanbruch wird das «Iglu» verlassen, um den Kropf mit Nahrung zu füllen, die dann in der Schneehöhle verdaut wird. Am Nachmittag wiederholt sich der Vorgang.
Das Schneehuhn hat ein spezielles Verdauungssystem
Möglichst wenig Energie zu verbrauchen, ist das eine; die wenig energiereiche Nahrung, die während des Winters zur Verfügung steht, möglichst effektiv zu nutzen, das andere. Im Sommer ist der Tisch auch oberhalb der Waldgrenze reich gedeckt. Die Schneehühner können sich gütlich tun an saft igen jungen Trieben von Zwergweiden, an Blättern, Blüten oder Samen von Alpenkräutern. Die Blätter von Alpenrosen schmecken den Schneehühnern allerdings gar nicht – sogar Blütenknospen werden manchmal wieder ausgespuckt. In früheren Zeiten wurde der Speisezettel noch bereichert durch Haferkörner, die aus dem Pferdemist herausgepickt wurden, der auf den Passstrassen zu finden war – tempi passati. Im Winter reduziert sich das Nahrungsangebot drastisch, sodass die Schneehühner sich mit einem rohfaserreichen und energiearmen Menü begnügen müssen, zum Beispiel mit Nadeln und Zweigen von Besenheide und anderen Zwergsträuchern. Wie seine Verwandten, das Haselhuhn, das Birkhuhn und das Auerhuhn, besitzt auch das Schneehuhn ein spezielles Verdauungssystem, das ihm ermöglicht, die harte Kost zu verdauen. Im muskulösen Kaumagen wird die aufgenommene Nahrung zuerst zerkleinert, und zwar mit Hilfe kleiner Steinchen, die die Pflanzenteile wie in einem Mörser zermahlen. Mikroorganismen in zwei speziell langen Blinddarmfortsätzen sorgen anschliessend dafür, dass die schwer verdauliche Nahrung aufgeschlossen wird, sodass ein Maximum an Energie daraus gewonnen werden kann.
Dreimal im Jahr wird das Gefieder gewechselt
Die Anpassung des Alpen-Schneehuhns an seinen unwirtlichen Lebensraum beschränkt sich aber nicht nur auf das Gefieder und das Verdauungssystem. Das Schneehuhn passt sich auch äusserlich an seine Umgebung an: Es wechselt dreimal im Jahr das Gefieder, um sowohl im weissen Schnee als auch im schneefreien Gelände optimal getarnt zu sein. Im Sommer ist das Brutkleid des Hahns graubraun marmoriert, dasjenige der Henne gelbbraun gesprenkelt. Im Herbst, nach der Brutzeit, ist das Gefieder beider Geschlechter gräulich und fein gemustert. Im Spätherbst schliesslich wird das Gefieder reinweiss, sodass die Vögel auf einem Schneefeld kaum zu sehen sind. Dank diesem Gefiederwechsel ist das Schneehuhn zu jeder Jahreszeit gut getarnt, was als Schutz vor Feinden wie dem Steinadler überlebenswichtig ist.
Opfer der Klimaerwärmung?
Das Schneehuhn ist also perfekt an die unwirtlichen Bedingungen im Hochgebirge angepasst und kann dort den im Winter herrschenden eisigen Temperaturen mühelos trotzen. Mit Wärme hingegen kommt es weit weniger gut zurecht. Bei Temperaturen über 15 Grad wird es den Vögeln bereits zu warm – sie suchen schattige Mulden mit kühlerem Mikroklima auf, legen sich in feuchten Sand oder sogar in fl iessendes Wasser und geben durch Hecheln aktiv Wärme ab. Während die Tiere sich normalerweise auf einer Höhe zwischen 1800 und 2700 Metern aufh alten, steigen sie im Sommer deutlich höher hinauf, wo es kühler ist. Doch die Möglichkeiten, höher zu steigen, um der Wärme zu entrinnen, sind begrenzt – irgendwann ist der Gipfel erreicht und es geht nicht mehr weiter. Die Aussichten für das AlpenSchneehuhn sind deshalb düster: Modelle sagen voraus, dass sich in den nächsten fünfzig Jahren die Durchschnittstemperatur im Lebensraum der Art während der Brutzeit um fast vier Grad erhöhen könnte. Die Tiere müssten sich demnach um bis zu 480 Meter in Richtung der Berggipfel verschieben. Bereits heute stellen die Beobachter fest, dass sich das Alpenschneehuhn in Richtung der Berggipfel verschiebt, in den Ostund Südalpen um 6 bis 9 Meter pro Jahr, in den Nordalpen um 2 bis 3 Meter pro Jahr. Die höheren Temperaturen führen dazu, dass auch die Waldgrenze höher hinaufsteigt, was den Lebensraum des Schneehuhns zwischen dem Wald und den vegetations losen Flächen über 3000 Metern schrumpfen lässt. Auch die Menschen drängen immer höher hinauf, um neue, schneesichere Skigebiete zu erschliessen.
Als Folge dieser Entwicklungen könnte das AlpenSchneehuhn in der Schweiz bis zu zwei Drittel seines Lebensraums verlieren. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Art abnehmen wird. In einer detaillierten Untersuchung hat die Vogelwarte Sempach festgestellt, dass in den 18 Jahren zwischen 1995 und 2012 der Bestand um durchschnittlich 13 Prozent abgenommen hat, allerdings mit grossen regionalen Unterschieden (in den Walliser und Berner Alpen zum Beispiel um 50 Prozent, in der Zentralschweiz um 16 Prozent, in Graubünden um 11 Prozent; einzig in den Nordostalpen konnte eine leichte Zunahme verzeichnet werden). Angesichts dieser beunruhigenden Zahlen und düsteren Prognosen wäre es wahrlich angebracht, die Jagd auf Schneehühner zu überdenken. Denn in den Kantonen Graubünden, Wallis, Tessin und Uri werden die Vögel bejagt und alljährlich zwischen 400 bis 500 Tiere getötet. Als ob sie nicht schon genug zu kämpfen hätten gegen das Wetter, das Klima und den Verlust des Lebensraums!
Rücksicht und Respekt beim Wintersport
Wie alle Tiere, die den Winter im Hochgebirge verbringen, ist auch das Alpen-Schneehuhn darauf angewiesen, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Wird es jedoch zur Flucht gezwungen – sei es durch Variantenfahrer, Skitourenfahrer oder Schneeschuhwanderer –, verliert es durch die Anstrengung, den Stress und die Kälte sehr viel Energie. Wird ein Tier regelmässig gestört, kann es so geschwächt werden, dass es nicht überlebt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in Gebieten ohne Wintertourismus die Bestände von Schneehühnern dichter sind als in Gebieten mit einer starken Belastung durch Wintertourismus.
Um die Störungen für die Tiere möglichst gering zu halten, sollten gewisse Verhaltensregeln beachtet werden:
- Schneeschuhwanderer verursachen am wenigsten Störungen, wenn sie sich an die bestehenden Schneeschuh- und Skitourenrouten oder an die Wege halten.
- Tourenskifahrer sollten den Aufstieg auf einer bestehenden Route oder einem Weg begehen und für die Abfahrt nicht durch den Wald fahren. Wildruhezonen sind tabu.
- Variantenfahrer und Freerider können im felsigeren Gelände, im Bereich aperer Stellen und am Waldrand grosse Störungen verursachen. Die Sportler halten sich am besten an die Freeride-Zonen.
- Pistenskifahrer und Snowboarder, die sich an die bestehenden Pisten halten, stellen für Wildtiere kein nennenswertes Störungspotenzial dar. Allerdings bewirken die Erschliessung und der Unterhalt eines Skigebiets bereits vor der eigentlichen Sportausübung eine erhebliche Belastung für die Tier- und Pflanzenwelt. Skigebiete werden daher für störungsanfällige Tiere weitgehend unbesiedelbar.
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So weiss wie Schnee - der Schneehase
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NATURZYT Ausgabe Dezember 2017, Text Claudia Wartmann, Foto AdobeStock