Der Winter steht vor der Tür. Für Tiere, die im Gebirge leben, eine schwierige Heraus forderung. Denn um unter den extrem unwirtlichen Be ding ungen überleben zu können, sind spezielle Anpassungsstrategien gefragt. Der Schnee hase zeigt, wie’s gemacht wird.
Lepus timidus – so lautet der zoologische Name des Schneehasen. Lepus bezeichnet die Gattung der Echten Hasen, timidus bedeutet «ängstlich, furchtsam». Mit anderen Worten: Der Schneehase ist gemäss seiner lateinischen Bezeichnung eigentlich ein «Angsthase». Alles andere als ein passender Name, denn wer wie der Schneehase klirrender Kälte und meterhohem Schnee trotzt, ist wahrlich kein Angsthase. Vielleicht müsste timidus eher mit «schüchtern» oder scheu übersetzt werden, denn der Schneehase ist tatsächlich ein sehr scheues Tier, das man kaum oder höchst selten zu sehen bekommt.
Schneeschuhe für einen Hasen
Der Schneehase lebt bei uns in den Alpen oberhalb 1300 Meter ü.M. Allerdings besiedelt er auch Gebiete in Skandinavien, Russland, Schottland und Irland. In diesen Ländern ist sein Lebensraum nicht gebirgig, sondern geprägt durch Tundra und Taiga. Wichtig ist in allen Fällen, dass genügend Nahrung vorhanden ist und der Lebensraum ausreichend Büsche, Bäume und Felsblöcke zur Deckung bietet. Ansonsten stellt der Schneehase keine grossen Ansprüche, sondern lebt sehr genüg sam. Als vorwiegend nachtaktives Tier verlässt er sein Tagesversteck in der Abenddämmerung, um sich auf Nahrungssuche zu begeben.
Auf diese Weise vermeidet er, mit einem seiner Feinde zusammenzutreffen, denn der Steinadler jagt seine Beute tagsüber. Fuchs und Uhu hingegen sind ebenfalls nachts unterwegs. Doch auch dem Fuchs schlägt der Schneehase ein Schnippchen: Da er seine Nahrung an stets wechselnden Orten suchen muss, kann der Fuchs den Schneehasen nicht abpassen, weil er nie weiss, wo er ihn antreffen könnte. Zudem läuft der Schneehase gerne auf seiner eigenen Spur zurück oder hoppelt in wildem Zickzack durch den Schnee, was seine Feinde völlig verwirrt. Wird der Schneehase trotzdem mal von einem Fuchs entdeckt, hat er immer noch gute Chancen, ihm zu entkommen: Die langen Zehen an seinen breiten, kräftigen Hinterpfoten sind stark behaart; werden sie gespreizt, bieten die Hinterpfoten eine grosse Auflagefläche und werden zu einer Art Schneeschuhen, die das Einsinken selbst im lockeren Pulverschnee verhindern. So kann der Schneehase im Winter schneller fliehen, während der schwerere Fuchs mit seinen kleineren Pfoten im tiefen Schnee einsinkt.
Getarnt und gewärmt im weissen Winterfell
Die «Schneeschuhe» sind nicht die einzige Anpassung des Schneehasen an den Winter im Gebirge. Auch der Fellwechsel hilft dem Schneehasen, die schwierige Zeit im Schnee zu überleben. Der Wechsel zwischen Sommer- und Winterfell ist im Tierreich an sich nichts Aussergewöhnliches. Beim Schneehasen aber wechselt nicht nur die Dichte des Haarkleids, sondern auch dessen Farbe: Im Sommer tragen die Tiere ein dunkel- bis graubraunes Sommerkleid, das im Herbst in ein weisses Winterfell übergeht. Im Sommer erfolgt dann die Rückfärbung vom weissen Winter- ins braune Sommerkleid. Dieser Farbwechsel des Fells sorgt für eine hervorragende Tarnung. In einer verschneiten Landschaft lösen sich die Konturen des weissen Schneehasen praktisch auf, sodass er kaum sichtbar ist. Im Sommer hingegen wäre ein weisses Fell mehr als hinderlich, denn als weisser Fleck auf grünbraunen Alpweiden wäre der Schneehase weit - herum sichtbar, in seinem braunen Sommerkleid aber fällt er nicht weiter auf. Umgekehrt wäre ein brauner Hase im weissen Schnee ein leichtes Opfer für seine Fressfeinde. Die feine Unterwolle des Fells sorgt während des ganzen Jahres für eine gute Isolation. In den weissen Grannenhaaren des Winterfells werden die fehlenden Farbstoffe raffinierterweise durch Luft ersetzt. Diese Luft wirkt isolierend und unterstützt den Schneehasen dabei, in klirrender Kälte die Körpertemperatur zu regulieren, sodass er weniger Energie dafür aufwenden muss. Die typischen Hasenohren sind kürzer als etwa beim Feldhasen, was die Hautoberfläche und damit den Wärmeverlust deutlich reduziert. Bei Schneefall lässt sich der Schneehase einfach in seinem Lager einschneien. Diese Schneehöhle wirkt isolierend wie ein Iglu. Die warme Atemluft hält einen «Luftschacht» offen. Die zusammengekauerte Körperhaltung spart zusätzlich Energie.
Kostbarer Kot
Energie ist in den rauen Bergwintern das «A» und «O» des Überlebens. Denn in der tief verschneiten Landschaft ist das Nahrungsangebot knapp. Während das Murmeltier Fettreserven anfrisst und sich zum Winterschlaf zurück - zieht, muss der Schneehase weiterhin auf Futtersuche. Denn er hat sich keine Fettreserven angelegt, von denen er jetzt zehren könnte. Zwergsträucher, Gräser und Kräuter – seine bevorzugte Nahrung im Sommer – sind unter der hohen Schneedecke nicht mehr zugänglich. Also muss er im Winter seine Ernährung umstellen auf das, was trotz Schnee erreichbar ist: Rinden, Zweige, Erlentriebe oder Fichtennadeln. Die von der Schneelast herabgedrückten Zweige sind für den Schneehasen gut zu erreichen. Manchmal muss er sich aber auch auf die Hinterläufe aufrichten, um einen Zweig herab zuziehen. Nachdem er ein Stück eines Zweigs abgebissen hat, nagt er die Rinde und Knospen ab. Diese holzige, faserreiche Nahrung ist nicht besonders nährstoffreich. Deshalb wird sie vom Schneehasen wiederverwertet: Er frisst den Kot, der vom Blinddarm aus geschieden wird, gleich nochmals. So passiert die kostbare Nahrung den Darm ein zweites Mal, wodurch die wertvollen Vitamine und Nährstoffe vom Körper effektiver genutzt werden können.
Stress lass nach!
Kotkügelchen sind nicht nur über lebenswichtig für Schneehasen, sie gestatten es auch der Wissenschaft , wertvolle Informationen daraus zu gewinnen. So hat der Forstwissenschafter und Wildtierökologe Maik Rehnus von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL anhand der Kotkügelchen herausgefunden, dass Schneehasen in touristisch stark genutzten Gebieten mehr Stresshormone ausscheiden als in Gebieten mit wenig oder keinen Touristen. Wen wundert’s: Bewegen sich Freerider ausserhalb der markierten Skipisten, stören sie die Schneehasen in ihrer überlebenswichtigen Ruhephase. Die Tiere werden aufgeschreckt und flüchten, was für sie einen hohen Energieaufwand bedeutet – gestresste Schneehasen benötigen nämlich etwa 20 Prozent mehr Energie als ungestörte. Wildruhezonen sollten deshalb unbedingt beachtet werden, um den Schneehasen und anderen Wildtieren das Leben nicht noch schwerer zu machen, als es im Winter ohnehin schon ist. Gerade der Schneehase hat zusätzlich noch mit einer anderen Gefahr zu kämpfen – der Klimaerwärmung. Mildere Winter erlauben es den grösseren Feldhasen, in den Lebensraum des Schneehasen vorzudringen. So könnte der Schneehase aus den Randbereichen der Alpen verdrängt werden. Eine ungewisse Zukunft also für eine aussergewöhnliche Tierart, die sich wie wenige andere an die harten winterlichen Bedingungen im Gebirge angepasst hat.
Dies und das zum Schneehasen
- Feldhase oder Schneehase? Im Sommer ist diese Frage nicht einfach zu beantworten, denn beide tragen ein braunes Fellkleid. Einen ersten Aufschluss gibt die Höhe über Meer: Schneehasen sind kaum unter 1300 Meter anzutreffen. Diese Höhe bildet aber keine scharfe Grenze zwischen den beiden Arten, denn der Feldhase kann auch auf 1800 Meter Höhe vorkommen. Eindeutigen Aufschluss gibt der Schwanz: Er bleibt beim Schneehasen das ganze Jahr über weiss, während beim Feldhasen die Schwanzoberseite schwarz gefärbt ist.
Der Schneehase hinterlässt im frischen Schnee deutliche Spuren. Sie haben die Form eines «Y» mit zwei neben einander stehenden grossen Pfoten abdrücken und zwei hintereinander liegenden kleinen, runden Pfotenabdrücken. - Schneehasen live zu sehen gibt es im Natur- und Tierpark Goldau. Einige der Tiere sind im Bartgeier-Gehege untergebracht. Doch keine Angst: Die Hasen sind keineswegs als Futter für die Bartgeier gedacht, denn Bartgeier ernähren sich von den Knochen toter Tiere.
- Damit sich Schneesportlerinnen und Schneesportler naturverträglich verhalten und die Natur weiter hin in vollen Zügen und ohne Konflikte geniessen können, haben das Bundesamt für Umwelt BAFU und der Schweizer Alpen-Club SAC die Kampagne «Respektiere deine Grenzen» lanciert. Infos: www.respektiere-deine-grenzen.ch
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NATURZYT Ausgabe Dezember 2016, Text Claudia Wartmann Fotos Fotolia, Shutterock, Natur- und Tierpark Goldau