Riesige Naturschutzgebiete und Abenteuerlandschaften voller Tiere und unberührter Natur – das gibt es doch nur in Dschungeln anderer Kontinente, oder? Weit gefehlt: Im Nordosten Deutschlands tobt das wilde Leben.
Langsam mit dem Kanu über das stille, glatte Wasser gleiten. Ruderschlag für Ruderschlag tiefer in den urigen Wald hinein, durch den sich der Fluss Peene träge schlängelt. Die untergehende Sonne verwandelt die Flusslandschaft im Nordosten Deutschlands zum Märchenwald. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn am Ufer die ersten Biberburgen auftauchen: Fleissig hat hier der Wohnungsbesitzer Zweige und Äste zu einem riesigen Haufen aufgetürmt. Kurz vor Sonnenuntergang stehen die Chancen gut, dass auf der so genannten «Biber-Safari» mit dem Kanu der tierische Burgherr ebenfalls zu erspähen ist. Über 100 Biberburgen stehen am Peene-Ufer, durchschnittlich lebt an jedem Flusskilometer eine Biberfamilie. Dabei waren die bis zu 35 Kilo schweren Nager in Mecklenburg-Vorpommern schon ausgerottet. Erst 1976 wurden Biber aus Sachsen an der Peene neu angesiedelt.
«Amazonas des Nordens» nennt man die Peene gerne. Sie verfügt als einer der wenigen Flüsse in Deutschland noch über ihren natürlichen Lauf und eine vielfältige Auenlandschaft mit dicht bewachsenen Uferbereichen und kleinen Inseln im breiten Flusslauf. Vorbei an saftigen Flussauen, Torfstichen, sumpfigen Bruchwäldern und Niedermooren führt die Peene durch nahezu unberührte Natur. Mäandernd fliesst sie durch ihr natürliches Bett zur Ostsee hin, weitet sich hinter Anklam in einem Delta zum Stettiner Haff und dem Achterwasser der Insel Usedom. Das Peenetal gilt mit einer Fläche von 20 000 Hektaren als grösstes Niedermoorgebiet Mitteleuropas und ist sozusagen eine Arche Noah der Artenvielfalt Europas. Neben dem Biber lassen sich hier auch Fischotter, Eisvogel und Seeadler beobachten, die im fischreichen Gewässer jagen.
Gastspiel der Kraniche
Für viel Lärm sorgen im Frühling und im Herbst die Kraniche: Die sangesfreudigen Stars des Himmels machen hier in den flachen Bodden- und Seengewässern in Mecklenburg-Vorpommern auf ihrer Zugstrecke Rast und sorgen einige Wochen für ein unvergleichliches Naturschauspiel. Während von Mitte März und Anfang April das bezaubernde Balzritual der imposanten Vögel stattfindet, dient die Rast im Herbst der Futteraufnahme. Die liegengebliebenen Mais- und Gerstenkörner auf den abgeernteten Feldern sind ein gefundenes Fressen für die Kraniche, um genügende Reserven für den kräftezehrenden Flug ins Winterquartier im Süden anzulegen.
Die Kraniche sind jedoch nicht die einzigen gefiederten Stars in diesem Gebiet: Auf einer ornithologischen Tour durch das Naturschutzgebiet Anklamer Stadtbruch im Peenetal lassen sich unter anderem Kamingimpel, Zwergschnäpper, Trauer- und Weissbartseeschwalbe, Stelzenläufer und Kampfläufer beobachten. Und wer am Himmel eine majestätische Raubvogelsilhouette entdeckt, darf sich freuen: Der Seeadler galt in Deutschland um 1900 als ausgerottet. Heute verfügt das Peenetal über die höchste Seeadler-Brutdichte Europas. Dank hoher Nistplätze und sauberer Gewässer sind die Bedingungen für Adler hier ideal. Neben dem Seeadler, der über eine Flügelspannweite von bis 2,5 Metern verfügt, sind hier auch der Fisch- und Schreiadler heimisch.
Die sieben Grossen im Settiner Haff
Die Peene mündet durch die Lagune Stettiner Haff und um die Inseln Usedom und Wolin herum in die Ostsee. Sie ist jedoch nicht der einzige Fluss, der diese einzigartige Landschaft Mecklenburg-Vorpommerns prägt. Die Oder bildet weiter östlich einen Teil der Grenze zwischen Deutschland und Polen. Ihr Delta, das sich ebenfalls in das Stettiner Haff ergiesst, ist die Heimat von sieben besonders ikonischen Arten, den «Big Seven»: Seeadler, Wisent, Biber, Elch, Wolf, Stör und Kegelrobbe leben in der grossflächigen wilden Wasserlandschaft . Malerische Klippen und unberührte Strände, ausgedehnte Sümpfe und Feuchtgebiete fügen sich auf einmalige Weise rund um diese idyllische Lagune zusammen. Das Oderdelta ist zudem ein wichtiger Rastplatz für ziehende Wasservögel. Die Biodiversität der hier heimischen Tier- und Pflanzenwelt ist enorm gross und selbst im europäischen Vergleich einzigartig.
Spektakuläre Felsen an der Küste
Folgt man der Küste entlang weiter nordwestlich, gelangt man in die Hansestadt Stralsund, wo sich ein Besuch des Ozeaneums empfiehlt. Ohne nasse Füsse zu bekommen, kann man sich hier auf eine Entdeckungsreise durch die Welt der nördlichen Meere begeben. Die Kreisstadt des Landkreises Mecklenburg-Vorpommern wird gerne als «Tor nach Rügen» bezeichnet: Rügendamm und Rügenbrücke verbinden die Stadt mit der berühmten Ostseeinsel. Auch wenn es hier etwas lebhaft er zugeht, lassen sich tolle Naturwunder entdecken; etwa die spektakulären Riff s der Kreideküste an der Ostküste Rügens. Immer wieder ist das Wahrzeichen in den Nachrichten, wenn ein grösserer Kreidefelsen abbricht und in die Ostsee stürzt. Die beliebteste Attraktion der Kreideküste ist der Königsstuhl. Mit seinen 118 Metern ist er der höchste Kreidefels Rügens und das Wahrzeichen der Insel. Über 800’000 Besucherinnen und Besucher bestaunen jedes Jahr die fantastische Aussicht von seiner Aussichtsplattform im Nationalpark Jasmund.
Wildes Eiland an der Ostsee
Weiter südlich befindet sich ein weiteres interessantes Ausflugsziel: In 2,5 Kilometer Entfernung vor der rügenschen Südküste liegt die Insel Vilm. Dieses kleine Naturparadies darf man nur im Rahmen einer Führung betreten. Wie die Kreideküste auf Rügen ist auch Vilms Kliff aktiv: Das bedeutet, dass von Zeit zu Zeit Brocken aus Geschiebemergel abbrechen und mitsamt den auf ihnen wachsenden Bäumen ins Meer rutschen. Schon zu DDR-Zeiten war die kleine Insel für die allermeisten Reisenden gesperrt. Nur ausgewählte Mitglieder der SED-Führungsriege wie Erich Honecker oder Walter Ulbricht durften dort ihren Urlaub verbringen. Mit über 300 Arten an Farn- und Blütenpflanzen ist die Flora der Insel äusserst vielfältig. Die knorrigen Buchen sind mittlerweile bis zu 300 Jahre alt und entsprechend imposant. Manche Eichen haben sogar ein Lebensalter von 600 Jahren erreicht und verleihen der Insel eine geradezu mystische Atmosphäre. Heute ist der Wald sich selbst überlassen; tote und kranke Bäume werden nicht vom Menschen entfernt, sondern auf natürlichem Wege von Pilzen, Würmern und Ameisen entsorgt.
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NATURZYT Ausgabe Dezember 2022, Text Helen Weiss, Foto AdobeStock