Auseinandersetzungen unter Tieren sind kaum vergleichbar mit den Zwisten unter uns Menschen. Tiere «streiten» anders als wir: Werden sie aggressiv, geht es – einfach ausgedrückt – immer nur um das eine: den Fortpflanzungserfolg.
Ein stampfender Stier, streitende Hähne oder SeeelefantenBullen, die sich bis aufs Blut bekämpfen – sie alle sind Sinnbilder für Aggressionen im Tierreich. Oft mals deuten wir Menschen das Verhalten der Tiere jedoch falsch. Wir projizieren Dinge in ihre Handlungen, die wir aus dem eigenen Leben kennen, weil wir als Laien ihre Verhaltensweise nicht von Grund auf verstehen. So sind etwa die Fische der Gattung Gurami einfach «süss», weil man sie oft beim Küssen beobachten kann. Die «Liebesbeweise» der Fische sind jedoch nichts anderes als sogenannte Kommentkämpfe, ein angeborenes Kampfverhalten gegenüber Artgenossen ohne Verletzungen. Dass wir uns küssen, um Zuneigung zu zeigen, heisst also nicht, dass es Tiere aus demselben Grund tun – genauso wenig streiten Tiere aus den gleichen Gründen wie wir. Tierische Streitereien lassen sich deshalb kaum mit jenen der Menschen vergleichen.
Nachbarschaftliche Zwiste und den Tieren
So wie beispielsweise Hunger, Sexualverhalten und Fluchtbereitschaft zur Verhaltensgrundausstattung gehören, ist auch die Aggression aus dem Verhaltensrepertoire keines Lebewesens wegzudenken. Aggression in der Tierwelt ist nicht schlechthin ein böser vernichtender Trieb, sondern ein Instinkt auch für den eigenen Schutz sowie jenen der Nachkommen. Bei Tieren unterscheidet man Auseinandersetzungen mit Artgenossen (intraspezifisch) und Artfremden (interspezifisch). Die Aggression gegenüber Artfremden nutzt dem Beutefang und der Verteidigung gegenüber Feinden. Vielschichtiger ist die Auseinandersetzung mit Artgenossen: Hier geht es vor allem um das Behaupten und Erringen der Rangposition innerhalb der Gruppe sowie das Sicherstellen, die eigenen Gene weitergeben zu können, also den Kampf um Geschlechtspartner. Zudem muss das Revier, das genügend Nahrung und Nistplätze garantiert, ständig verteidigt werden. Es ist zwar durchaus möglich, dass nachbarschaftliche Zwiste unter Menschen den Territorialkämpfen im Tierreich ähneln. Grundsätzlich ist jedoch zu beachten, dass es dem Tier immer nur um die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse geht, also Nahrung und somit die Erhaltung seiner Lebensfunktionen sowie die Pflege der Nachkommen. Die Kämpfe um den Nahrungsraum sind für Tiere überlebenswichtig.
Bei Nachbarschaftsstreitigkeiten unter Menschen geht es jedoch meist um irgendeine Art der Belästigung: Der Baum wächst über die Grundstücksgrenze, die Kinder spielen die Musik zu laut oder der Zaun versperrt die Aussicht. Dass sich Tiere in diesem Sinne belästigt fühlen könnten, wurde nicht beobachtet. Tierische Interaktionen an Reviergrenzen haben eher damit zu tun, dass ein Tier oder eine Gruppe versucht, ein Territorium zu etablieren oder ein bestehendes zu vergrössern. Diese Motivation entspricht beim Menschen also eher Grenzstreitigkeiten zwischen Nationen oder Stämmen, nicht aber den berüchtigten Nachbarschaftsstreitigkeiten.
Singvögel verteidigen Ihr Revier durch Gesang
Dass das Zusammenleben auf engem Raum auch für Tiere nicht einfach ist, zeigt etwa das Verhalten der Lemminge. Um die kleinen Nagetiere aus dem Norden Europas ranken sich merkwürdige Geschichten: Die Tiere sollen sich zu grossen Zügen zusammenschliessen und gemeinsam ins Meer stürzen. Hintergrund solcher Sagen ist, dass Lemminge sich etwa alle vier Jahre explosionsartig vermehren und bei knapper Nahrung Wanderungen in günstigere Gebiete unternehmen. Sie überqueren dabei auch Flüsse oder Seen. Dabei kommen viele Tiere um. Die Wanderungen werden durch die engen Platzverhältnisse ausgelöst. Indem sich die Nager durch Abwanderung distanzieren, werden Aggressionen unter Artgenossen, die nicht miteinander verwandt sind, verhindert. Auch Vögel wissen sich gegen die Enge zu helfen: Singvögel verteidigen ihr Revier durch Gesang. Das lautstarke Gezwitscher hat also einen tieferen Sinn, als uns Menschen frühmorgens aus dem Schlaf zu reissen.
Ähnlich wie bei uns Menschen ist auch das soziale Gefüge unter Tieren voller Konflikte. Insofern leben fast alle sozial höheren Wirbeltiere im Dauerstreit. Kaum schwächelt ein dominantes Tier, sinkt seine Stellung innerhalb der Gruppe. Oft überlebt das Tier diesen Statusverlust nicht. Deshalb verteidigt der territoriale Singvogel sein Revier auch weiter, wenn er seinen Nachbarn kennt. Sollte aber einer von beiden nicht mehr singen, wird der andere eventuell in das «fremde» Revier fliegen und es übernehmen wollen. Grundsätzlich versuchen Vögel, ja alle Tiere, ihre Streitigkeiten rituell zu klären. Der Streit bei Tieren läuft also nach einem gewissen Schema ab. Deshalb endet ein Kampf selten tödlich. Solange es um Konkurrenz gewisser Ressourcen geht, wägt jedes Tier das Risiko ab, bevor es sich in eine Auseinandersetzung wagt. Natürlich gibt es im Detail Unterschiede: Der langjährige Platzhirsch wird sich ohne Zögern in seinen «letzten Kampf» stürzen, da eine erneute Übernahme seines Reviers ausgeschlossen ist. Auch Löwenmännchen, die ihr Rudel an eine andere Brüdergruppe verlieren, sind oft dem Hungertod ausgesetzt.
Eine Bärin mit Jungen reagiert anders als wenn sie alleine unterwegs ist
Die Aggression bei Tieren wird oft von einer bestimmten Lebensphase, Situation oder von hormonellen Vorgängen ausgelöst. Eine Bärin mit Jungen reagiert weitaus aggressiver, als wenn sie allein unterwegs ist. Ebenso sollte man einem Hirschbock in der Brunft möglichst aus dem Weg gehen. Es gibt in diesem Sinn deshalb kaum Tiere, die reizbarer sind als andere. Auch unberechenbare Tiere – aus menschlicher Sicht – gibt es kaum. Denn nur weil wir Menschen die Zielvorstellung eines Individuums nicht kennen und die Reaktion somit nicht voraussehen können, ist das Verhalten des Tieres nicht unberechenbar. Warum ein Bulle auf der Weide manchmal gefährlich wird und manchmal einfach weitergrast, ist oft des Tieres Geheimnis. Zudem hängt der Grad der Bedrohung für uns Menschen wohl auch von der Grösse des Tieres ab: je schärfer die Klauen und länger die Zähne, umso grösser die Angst. Eine angreifende Maus scheint uns weit weniger bedrohlich als ein wütender Tiger. Streitigkeiten untereinander oder Aggressionen gegenüber Artfremden müssen bei Tieren also genauso differenziert betrachtet werden wie bei uns Menschen.
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