Urtümlich und wild ist das Maggiatal. Dank seiner geringen Höhenlage sind bereits früh im Jahr Bergtouren in beinahe vergessene Landschaften möglich. Zum Beispiel ins Valle del Salto oder auf die Hochebene Capoli.
Anfang April. Im Maggiatal ist der Winter noch zum Greifen nah. Matte Braun- und Grüntöne dominieren die Landschaft, die höher gelegenen Alpen sind in dickes, strahlendes Weiss gepackt, spärlich bereichern Blumen die karge Vegetation. Das Tal erwacht eben erst aus dem Winterschlaf, und das ist gut so. Die verwinkelten Dörfer, die riesigen Wälder, die ersten Krokusse und Leberblümchen, das weite Ufer der Maggia, die sonnenverwöhnten Alpen mit ihren Rusticos, die verschlungenen Bergwege, die rauschenden Wasserfälle – all die Perlen hat man jetzt noch weitgehend für sich. Bestenfalls teilt man sie mit wenigen Gleichgesinnten, bei denen die Sehnsucht nach Bergwandern ebenfalls bereits im April erwacht.
Auf kühnen Wegen in die Höhe
Die Region zwischen Avegno und Giumaglio, am Eingang zum Maggiatal, ist ein Paradies für frühe Wanderhungrige. Die Bergwelt beginnt hier, im Gegensatz zur Alpennordseite, auf 300 Metern über Meer. Und wie! Das Tessin ist bekannt für steile Wände und wilde Schluchten, die auf unzähligen Stufen und kühn angelegten Wegen überwunden und durchquert werden. Das untere Maggiatal hält solche Leckerbissen zum Beispiel im Valle del Salto bereit oder auf dem Übergang von Capoli, der das Maggiatal mit dem Centovalli verbindet.
Bevor es an die erste Tour geht, gönnen wir uns einen Espresso auf der Piazza von Maggia; ein Barbesuch gehört im Tessin dazu, schliesslich war die Anreise aus der Deutschschweiz lang.
Der Einstieg ins Valle del Salto eine Viertelstunde später ist gemütlich, der Weg führt durchs Gassengewirr zum Fusse des Rebbergs. Dieser ist, typisch für das Tessin, terrassenförmig angelegt, um die Arbeit in den steilen Hängen zu erleichtern. Steil ist daher auch der weitere Weg – so steil, dass er vornehmlich über Treppen führt. Bei der Cappella della Pioda, dem ersten Höhepunkt der Tour, ist man froh um die Sitzbank. Die hübsche Kapelle mit Fresken aus dem 15. Jahrhundert ist weitum sichtbar.
Die Landwirtschaft geht, der Wald kommt
Noch imposanter ist die alte Steinbrücke hinter der Kapelle, sie überspannt in schwindelerregender Höhe den tosenden Riale del Salto. Den kribbelnden Tiefblick sparen wir uns für die Rückkehr, für den Aufstieg zum Stauwehr ist die linke, schattige Talseite angenehmer. Der Rundweg durchs Valle del Salto verbindet ein knappes Dutzend Alpen, die wie angeklebt über der Schlucht thronen. Die alten, teils restaurierten, teils zerfallenen Steinhäuser erzählen von Zeiten, als die Landwirtschaft im Maggiatal zu den Haupteinnahmequellen gehörte. Das ist lange her. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden im Tal noch über 100 Alpen bestossen. Heute sind es 20, Tendenz sinkend. Im Gegenzug hat sich der Wald stark ausgebreitet, er bedeckt über die Hälft e des Maggiatals. Im Valle del Salto ist es bestimmt mehr – die offenen Plätze mit freiem Blick auf die schneebedeckten Spitzen sollte man auskosten.
Dörfer fürs Gemüt
Überhaupt ist die Natur vorherrschend im Maggiatal. Es ist mit 570 Quadratkilometern doppelt so gross wie der Kanton Schaffhausen, doch die 5800 Einwohner besiedeln gerade mal 0,5 Prozent der Fläche. Dafür ist jedes Dorf eine Augenweide und Entdeckung für sich. Man verliert sich in engen Gassen, bestaunt stattliche Wohnhäuser, schlemmt in urigen Restaurants und Grottos, nächtigt hinter altehrwürdigen Mauern und wird am Morgen von Kirchengeläut geweckt. In welchem Ort man die freien Tage verbringt, ist nebensächlich. Wichtig ist nur, rechtzeitig aufzubrechen, will man den Weg vom Maggiatal über Capoli ins Centovalli unter die Füsse nehmen. Die Tour ist mit fünf Stunden Wanderzeit und je 700 Höhenmetern Auf- und Abstieg passend-knackig für den Saisonstart. Hat man in einem der Dörfer an der Hauptstrasse übernachtet, wird als erstes die Maggia überquert – der Ausgangsort Aurigeno liegt als eines der einzigen Taldörfer auf der rechten Flussseite. Eine lange Hängebrücke hilft beim Uferwechsel, im Nu ist man wachgeschaukelt.
Die Telefonkabine in den Bergen
Gute zwei Stunden Aufstieg durch Buchen- und Kastanienwald bringen einem nach Capoli, einer Hochebene wie aus dem Bilderbuch. Hier lautet das Motto ins Gras liegen, die Beine ausstrecken, den Blick in die Ferne schweifen lassen, die Ruhe geniessen – und die Zeit nicht vergessen. Ponte Brolla ist noch weit, der Weg über Prada, Djula, Streccia und Tegna reich an Attraktionen: Eine Bogenbrücke, mit Kopfsteinen gepflasterte Wege, ein Grotto mitten im Wald, ein nahezu verlassenes Dorf samt ausrangierter Telefonkabine, eine mächtige Kirche über dem Centovalli, muntere Bergbäche und immer wieder grossartige Ausblicke bis zum Lago Maggiore und nach Locarno gehören dazu. Sitzt man dort Stunden später auf der quirligen Piazza und trinkt einmal mehr Espresso, wünscht man sich zurück in die Ruhe und Abgeschiedenheit der wilden Täler und einsamen Hochebenen. Zum Glück hat die Tessiner Wandersaison erst begonnen.
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NATURZYT Ausgabe März 2015, Text/Foto Daniel Fleuti