Narzissen und Feldhasen stehen auf extensive Landwirtschaft. Auf den Waldweiden am Mont Sujet im Berner Jura geht es beiden gut. Die einen überziehen die Weiden mit einem gelben Teppich, die anderen sorgen beim Wanderer für Freude.
Osterglocken. Die wachsen bei uns im Garten. Bei den Nachbarn auch. Im Blumenladen um die Ecke gibt es sie im Töpfli für drinnen und draussen. Und der kleine Park vor der Kirche, der ist im Frühling ebenfalls voll davon. Kurz: Osterglocken erwarten uns im Frühling überall dort, wo der Mensch sie pflanzt. Denkt man zumindest. Doch weit gefehlt.
Am Mont Sujet blühen Osterglocken und wildwachsende Narzissen
Es ist April, und wir stehen im Berner Jura, genauer am Mont Sujet, und reiben uns die Augen. Zu unseren Füssen blühen – Osterglocken. Nicht ein paar, sondern Hunderte, Tausende. Die ganze Wiese leuchtet gelb unter der Sonne. Wildwachsende Narzissen sind nicht oft anzutreffen, intensive Landwirtschaft bekommt ihnen schlecht. Am Mont Sujet ist das anders. Die Weiden werden weder gemäht noch gedüngt, sondern im Sommer lediglich von Kühen gepflegt. Die Narzissen haben also reichlich Zeit zum Wachsen. Zudem schätzen sie das sonnige Klima und die trockenen Böden am Mont Sujet.
Wer dem lieblichen Berg mit seiner sanften Kuppe einen Besuch abstatten will, muss erst nach Les Prés-d’Orvin kommen. Das ist nicht einfach. Der Bus von Biel fährt unter der Woche am Morgen nur einmal, am Wochenende zweimal. Verpasst man ihn, erfolgt der Start zur Tour in Orvin, was eineinhalb zusätzliche Wanderstunden beschert. Les Prés-d’Orvin ist das Kontrastprogramm zu Biel: dort die laute, lebendige Stadt, hier die Ruhe der jurassischen Abgeschiedenheit. Im Winter scheint mehr los zu sein. Zwei Skilifte, drei Babylifte, 45 Kilometer Langlaufloipen und eine Schlittenbahn machen Les Prés-d’Orvin zum Sportzentrum, ein gutes Dutzend Lagerhäuser bieten Gruppen Platz. Im Frühling döst der Weiler vor sich hin. Die paar Wanderer, die mit uns ausgestiegen sind, haben den Weg zum Chasseral eingeschlagen. Den Mont Sujet haben wir für uns. Die Narzissen auch. Zu Beginn sind es wenige. Doch je höher wir steigen, desto üppiger wird das Blumenmeer.
Halb Wald, halb Weide auf dem Weg zum Mont Sujet
Sowieso ist die parkähnliche Landschaft ein Fest fürs Auge: ein Mosaik aus lichten Wäldern, dichten Hecken und offenen Weideflächen. Diese so genannten Wytweiden oder Waldweiden sind typisch für den Jura. Sie wurden vor Jahrhunderten dem Wald abgetrotzt, einzelne Bäume hat man für das Vieh als Schattenspender stehen gelassen – Fichten, Ahorne, Buchen, Vogel- und Mehlbeeren. In dieser reich strukturierten Landschaft ist die Artenvielfalt hoch. Wir staunen nicht schlecht, als ein Feldhase vor uns über die Weide hoppelt, und wenig später noch einer. Doch Wytweiden brauchen Pflege, sonst holt sie sich der Wald zurück. Kurz vor dem Gipfel des Mont Sujet treffen wir auf einen solchen Pflegebetrieb: eine Bergerie, die Kühe und Rinder sömmert. Noch herrscht wenig Betrieb, und man freut sich über jeden Gast, der im Beizli einkehrt. Der schönste Rastplatz indes befindet sich auf dem Gipfel des Mont Sujet. Der Berg ist ein riesiges Plateau, die Aussicht fantastisch. Bieler, Neuenburger- und Murtensee, Berner und Waadtländer Alpen, Chasseral, das Mittelland – alles ist fein säuberlich angeordnet. Da bleiben wir.
Abstieg zur Twannbach-Schlucht Richtung Lamboing
Der anschliessende Abstieg nach Lamboing ist so ganz anders als der Aufstieg. Der Wald hat sein Gesicht gewechselt, dicht an dicht stehen Buchen und Fichten. Schüler der Brienzer Schule für Holzbildhauerei haben dem Weg Skulpturen gespendet, also leisten uns Steinbock, Gämse, Wildschwein und Co. eine Weile Gesellschaft . Lamboing ist ein unscheinbares Dorf und hat doch Berühmtheit erlangt. Friedrich Dürrenmatts Roman «Der Richter und sein Henker» spielt in der Gegend. In Lamboing wohnen bei ihm dubiose Gestalten, die Twannbachschlucht ist Schauplatz eines Mords, den Kommissär Bärlach aus Bern aufklären soll. Also nichts wie hin an den Ort des Grauens, die Twannbachschlucht ist krönender Abschluss unserer Tour.
Der Zugang auf der Asphaltstrasse ist mühsam, der Einstieg wenig spektakulär. Doch nach wenigen Schlucht-Metern geht’s los. Der Twannbach setzt sich beherzt in Szene, stürzt über Kaskaden, rauscht über Felsplatten und gräbt sich zwischen mächtigen Felsbrocken ein Bett. Die Felswände werden hoch und höher und rücken zusammen; obwohl die Sonne scheint, fällt Nieselregen. Auf dem letzten Teilstück wurde der Weg gar in den Fels gehauen, vor 125 Jahren. Ein Schild macht auf Steinschlag aufmerksam, Geländer sorgen für Sicherheit. Die zwei Franken Wegzoll pro Person für den Unterhalt des Wegs werfen wir gerne in die Kasse.
Twann, Endstation. Der Bielersee glänzt im Abendlicht, das hübsche Winzerdorf schmiegt sich an die steilen Rebhänge, am Horizont grüssen abermals die Alpen. Will man die Postkartenidylle perfekt machen, lässt man sich nieder zu einem Glas Wein oder tuckert mit dem Abendschiff zurück nach Biel.
Tipps und Informationen zur Wanderung Mont Sujet
Wanderroute: Les Présd’Orvin, Bellevue – Noir Combe – Mont Sujet – Sentier des sculptures – Lamboing – Twannbachschlucht – Twann. Variante: In Twann noch ein Stück anhängen und durch die Rebberge mit Bielerseeblick nach Ligerz wandern. Eine halbe Stunde zusätzlich.
Anforderungen: Die Wege sind einfach und gut zu begehen, auch für Familien. Nach Regen ist die Twannbachschlucht allerdings rutschig. Eine gute Kondition ist nötig. Die Tour zieht sich in die Länge und überwindet im Abstieg 1000 Höhenmeter. Wanderzeit ohne Pausen gut 4 Stunden.
An- und Rückreise: Mit Zug und Bus über Biel nach Les Présd’Orvin, Bellevue. Zurück ab Twann mit dem Schiff oder Zug nach Biel. Achtung: Wenige Busse nach Les Présd’Orvin.
Einkehr: In den Orten Les Présd’Orvin, Lamboing und Twann sowie in den Bergwirtschaften am Fusse des Mont Sujet.
Karten: SwisstopoWanderkarte 1:50 000, Blatt Vallon de StImier (232T); SwisstopoLandeskarte1:25 000, Blätter Chasseral (1125) und Bielersee (1145).
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NATURZYT Ausgabe März 2020, Text/Fotos Daniel Fleuti