Das Wasser ist ihr Element: Da, wo es sprudelt und spritzt, ist die Wasseramsel zu Hause – ein Vogel, der schwimmen und tauchen kann, bevor er fliegen lernt.
«Ein Wiesel sass auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel. Wisst ihr weshalb? Das Mondkalb verriet es mir im Stillen: Das raffinierte Tier tat's um des Reimes willen.» Das Gedicht von Christian Morgenstern ist biologisch natürlich nicht ganz korrekt. Denn eigentlich müsste nicht das Wiesel, sondern die Wasseramsel auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel stehen. Aber eben – mit der Wasseramsel lässt es sich halt nicht so gut reimen ...
Tatsächlich sucht sich die Wasseramsel häufig einen wasserumspülten Stein inmitten eines sprudelnden und gurgelnden Baches oder Flusses. Dort steht sie, späht mit eingetauchtem Kopf unter Wasser nach Beute oder vollführt aufgeregte Knickse und zuckt dazu mit den Flügeln. Es sind diese Bewegungen, die sie dem Beobachter verraten, denn mit ihrem schwarzbraunen Gefieder und dem schokoladenbraunem Kopf wird sie inmitten von Steinen und strömendem Wasser leicht übersehen. Selbst der weisse Brustfleck verschmilzt gleichsam mit dem silbrigen Schaum der sie umsprudelnden Strudel.
Die Wasseramsel ist der einzige einheimische Singvogel die schwimmen kann
Der Stein dient auch als «Sprungbrett» für ihre Tauchgänge. Denn von den einheimischen Singvogelarten ist die Wasseramsel die einzige Art, die schwimmen und tauchen kann. Und wie sie das kann! Kopfvoran stürzt sie sich ins tosende Wasser, wobei sie Nasenlöcher und Ohren mit dünnen Hautfalten verschliesst, um das Eindringen von Wasser zu verhindern. Die Augen werden unter Wasser durch eine halbtransparente Nickhaut geschützt. Mit wenigen Flügelschlägen taucht sie zum Grund, wo die Strömung sie zu Boden drückt. Mit seinen kräftigen Beinen stapft der Vogel unter Wasser stromaufwärts, um nach Futter zu suchen. Dazu sucht er die am Grund liegenden Steine von allen Seiten ab, hebt sie mit dem Schnabel an, verschiebt sie, dreht sie, schleudert sie weg oder wendet sie, indem er den Schnabel darunterschiebt. Nach fünf bis zehn Sekunden taucht er wieder auf, wie ein Korken an die Wasseroberfläche schnellend.
Zur bevorzugten Nahrung, die die Wasseramsel auf diese Weise erbeutet, gehören vor allem Larven von Köcherfliegen, Eintagsfliegen und Steinfliegen. Bachflohkrebse und Wasserkäfer stehen genauso auf der Menükarte wie Schnecken, Würmer oder Blutegel. Selbst kleine Fische von wenigen Zentimetern Länge werden nicht verschmäht. Hat die Wasseramsel ein Fischchen erbeutet, wird dieses auf dem Ansitzstein mehrmals hin- und her geschleudert, geschüttelt, bepickt, ins Wasser getaucht und auf dem Stein aufgeschlagen. So wird das Fischchen zu Brei geschlagen und erst dann als Ganzes verschlungen und mit einem Schluck Wasser runtergespült. Auch die Köcherfliegenlarven müssen ein unangenehmes Prozedere über sich ergehen lassen, bevor sie im Schnabel der Wasseramsel verschwinden. Da die Larven kleine Steinchen und Schilfstückchen mit Sekret zu einer Wohnröhre verkleben, muss die Wasseramsel die Larve irgendwie aus ihrem kompakten Köcher herausbringen. Sie schafft dies, indem sie den Köcher im Schnabel festhält und mit beiden Enden gegen den Stein schlägt. Kriecht die Larve bei dieser unsanft en Behandlung etwas aus ihrem Köcher heraus, wird sie gepackt und der herunterhängende Köcher auf den Stein geschlagen, bis er sich vom Hinterleib löst und die Larve verzehrt werden kann.
Wie kann die Wasseramsel tauchen?
Kein Zweifel, die Wasseramsel hat mit ihrer speziellen Nahrungssuche eine Nische gefunden, die ihr kein anderer Vogel streitig macht. Damit die Wasseramsel aber überhaupt so geschickt tauchen kann, müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein. So weisen ihre Knochen keine luftgefüllten Hohlräume auf wie bei anderen Singvögeln, sondern sie sind mit Mark gefüllt. Dadurch wird das Skelett schwerer, was im Wasser weniger Auftrieb ergibt – für Taucher eine unerlässliche Voraussetzung. Die dichten, fast pelzartigen Federn wirken sowohl als Tauchanzug wie auch als Thermosflasche: Sie sorgen dafür, dass die Wasseramsel während zwanzig Minuten immer wieder tauchen kann, ohne nass zu werden oder Körperwärme zu verlieren. Dieses funktionale Federkleid führt dazu, dass Wasseramseln ihren Revieren selbst in eiskalten Wintern treu bleiben können. In Sibirien harren die Tiere sogar bei Temperaturen von minus 40 Grad aus. Erst wenn die Gewässer zufrieren, sind Wasseramseln gezwungen, flussabwärts zu wandern. Damit die Federn geschmeidig bleiben und nicht brüchig werden, ist die Pflege des Gefieders für die Wasseramseln überlebenswichtig. Mit dem öligen Sekret aus der Bürzeldrüse werden während der Ruhepausen die Federn sorgfältig eingefettet. Einige wenige Male konnte sogar beobachtet werden, wie Wasseramseln noch lebende Ameisen in den Schnabel nahmen und mit ihnen durchs Gefieder strichen. Dieses Verhalten – «Einemsen» genannt – ist auch bei anderen Vogelarten festgestellt worden, der biologische Nutzen jedoch (noch) nicht völlig geklärt. Eine mögliche Funktion könnte darin bestehen, dass die von den Ameisen abgesonderte Säure das Gefieder pflegt und vielleicht sogar gegen Parasiten wirkt.
Die Wasseramsel kann natürlich auch fliegen
Die Wasseramsel ist also bestens fürs Schwimmen und Tauchen eingerichtet. Trotzdem vollbringt sie den Spagat zwischen Wasser und Luft . Denn anders als etwa die flugunfähigen Pinguine kann die Wasseramsel auch fliegen. Allerdings lernen die Jungen zuerst schwimmen, tauchen, unter Wasser gehen, an Steinen hochklettern – und erst zu guter Letzt fliegen. Meist fliegen die Tiere dicht über dem Wasserlauf. An der Reviergrenze scheint eine unsichtbare Wand sie daran zu hindern weiterzufliegen, und sie kehren zu «ihrem» Sitzstein zurück, wo sie ihr Knicksen und Flügelzucken wieder aufnehmen. Es wird vermutet, dass dieses auffällige Verhalten der Kommunikation mit anderen Wasseramseln dient. Denn im lauten Gemurmel, Blubbern und Rauschen der sprudelnden Bäche und Flüsse ist ein Gesang oder Warnlaut kaum zu hören. Schade eigentlich, denn die Wasseramsel verfügt über ein äusserst attraktives Repertoire an Lauten. So kann sie zwitschern, quirlen, pfeifen, schnurren, schnalzen und sogar vereinzelt Laute von anderen Vogelarten einbauen, die mit ihr den Lebensraum teilen. Kein Wunder, wurde schon dafür plädiert, die Wasseramsel in «Wasserschwätzer» umzubenennen.
Lebensraum der Wasseramsel
Der Lebensraum zeichnet sich aus durch rasch fliessendes, sauberes und gut durchlüftetes Wasser, wie es vor allem in Gebirgsbächen oder am Oberlauf von Flüssen zu finden ist. Das Bachbett ist steinig, denn im Kies und Schotter findet die Wasseramsel günstige Bedingungen für die Nahrungssuche. Inselchen oder grössere Steine dienen als Sitzwarte und verursachen willkommene Turbulenzen. Lockeres Gebüsch am Ufer bietet Verstecke für Ruhepausen. Das kunstvolle Nest – eine Mooskugel mit einer Innenausstattung aus dürren Blättern – wird nah am Wasser gebaut, sei es auf einem Felsvorsprung, unter einer Brücke, in einem überhängenden Ufer oder sogar hinter einem kleinen Wasserfall.
In der Schweiz mit ihren zahlreichen Gebirgsbächen findet die Wasseramsel genügend Lebensräume vor, die ihre Bedürfnisse erfüllen: 3000 bis 5000 Paare brüten in unserem Land. Ende des 19. Jahrhunderts hatte es die Wasseramsel allerdings nicht immer einfach: Sie wurde als Fischfresser und Laichräuber verschrien und verfolgt. Selbst der frühe Ornithologe Christian Ludwig Brehm empfahl 1855 die Verwendung von Tellereisen, Leimruten und Schlingen zum Fang der Wasseramsel. Dank Forschern, die die Nahrung der Wasseramsel untersuchten und feststellten, dass Fische und Laich nur zu einem unbedeutenden Teil gefressen werden, haben sich diese Zeiten zum Glück geändert. Und wer weiss, vielleicht findet sich eines Tages sogar ein Dichter, der der Wasseramsel ein Gedicht widmet – reimend, selbstverständlich.
Fotos Ambroise Marchand, Daniel Kühler
Der Wasseramsel auf der Spur
Für die beiden Naturfotografen Ambroise Marchand und Daniel Kühler war es nicht einfach, die Wasseramsel zu fotografieren: Der Vogel ist quirlig, flink und häufig unsichtbar unter Wasser, sodass es schwierig ist, sein Verhalten ins rechte Bild zu rücken. Wer immer die Wasseramsel beobachten oder sogar fotografieren möchte, braucht viel Geduld.
Hier einige Tipps von Ambroise Marchand:
- Zuerst gilt es, einen Bach zu finden, wo Wasseramseln leben. Sie sind in der ganzen Schweiz verbreitet, bevorzugen aber saubere Bäche und Flüsse, die nicht zu tief sind und sprudelnd fliessen. Läuft man einem solchen Bach oder Fluss entlang, wird man die Bewegung wahrnehmen, wenn die Wasseramsel wegfliegt.
- Hat man ein Revier der Wasseramsel gefunden, setzt man sich ruhig ans Ufer und beobachtet sie während mehrerer Stunden aufmerksam mit dem Feldstecher. So findet man heraus, auf welche Steine sie sich am liebsten hinsetzt, um sich auszuruhen, ins Wasser zu lugen oder wegzutauchen. Man merkt, wie lange sie unter Wasser bleibt und wo sie am ehesten wieder auftaucht.
- Erst wenn man das Verhalten des Tiers in seinem Lebensraum kennengelernt hat, kann man versuchen, mit einem Teleobjektiv die Wasseramsel zu fotografieren, ohne sie dabei zu stören. Wichtig ist nicht unbedingt, den Vogel möglichst formatfüllend ins Bild zu kriegen, sondern ihn in seinem natürlichen Lebensraum abzubilden.
Wer sich für weitere Naturbeobachtungs-Tipps von Ambroise Marchand interessiert, findet in seinem Buch «Die Freiberge – Hochebene im Herzen des Jura» aus der Reihe «Hotspots Europas: Naturführer für Entdecker» weitere wertvolle Tipps und Anregungen für Entdeckungstouren in der Natur (erschienen in der VerlagsKG Wolf, ISBN 978-3- 89432-269-4, CHF 26.–).
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NATURZYT Ausgabe Juni 2016, Text Claudia Wartmann, Fotos Ambroise Marchand, Daniel Kühler