Das Wisent-Herde bei Sonnenuntergang

Das grösste Landsäugetier Europas, welches bereits im Mittelalter auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ausgerottet wurde, ist heimgekommen. Er grast friedlich auf der sattgrünen Wiese am Waldrand. Das Wisent, der europäische Bison.

Ein herrlicher Tag, draussen scheint die Sonne und lockt uns raus in die Natur. Beim Spaziergang entdecken wir einige hundert Meter entfernt ein riesig anmutendes Huftier, welches gemütlich saftiges Gras kaut. Von Weitem sieht es einer Kuh sehr ähnlich, wirkt aber urtümlicher. Es ist ein Wisent, ein europäischer Bison. Ich erzähle den Enkelkindern meiner Schwester, dass diese Tiere, wie auch der Bär und Wolf, in der Schweiz wieder heimisch sind und eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung gefunden haben. Aber dies wäre im Jahr 2019 so nicht denkbar gewesen.

Es gab viel Wiederstand gegen den Wolf und den Bären. Diese Grosswildtiere seien viel zu gefährlich für die kleine Schweiz, dafür hätten wir hier keinen Platz, auch wenn diese vor uns hier gewesen seien. Die Schäden, welche der Wolf bei Schafen und anderen Tieren anrichte, sei enorm und gehe in die Tausende. Auch Schutzmassnahmen und Herdenhunde würden Kosten verursachen. Und die Gefahr für uns Menschen, welche von diesen Grossraubtieren ausgehe, dürfe nicht unterschätzt werden. Das waren einige Argumente derer, die Angst vor diesen grossen Tieren hatten.

Wisent beim Grasen auf einer Lichtung in der Dämmerung
Eine Begegnung der besonderen Art auf dem Waldspaziergang.

Ich erzähle weiter, dass im Jahr 2020 weltweit ein unsichtbares Kleinstlebewesen, nämlich ein Virus, Schrecken verbreitet und für Monate die ganze Schweiz lahmgelegt hatte. Schulen und Geschäfte wurden geschlossen, man musste zu Hause bleiben, und viele, vor allem ältere Menschen seien an diesem Kleinorganismus gestorben. Es war ein Gegner, der nicht sichtbar war, und doch konnte er einen das Leben kosten. Milliarden wurden investiert, um die Schäden, welcher dieser unsichtbare Gegner direkt und indirekt verursachte, möglichst gering zu halten.

Das war damals der Zeitpunkt, als das grosse Umdenken stattfand. Die Schweiz und auch andere Länder hatten erkannt, dass Grossraubtiere – unsere Ureinwohner – keine Gefahr für Leib und Leben darstellen, wenn man sich richtig verhielt. Und dass die möglichen Schäden in der Landwirtschaft im Verhältnis zum unsichtbaren Gegner von damals sehr gering seien.

In der Zwischenzeit sind weitere Wisente aus dem Wald auf das grüne Feld gekommen. Friedlich grasen sie in der Abenddämmerung und nehmen von uns, ausser ein paar neugierigen Blicken, fast keine Notiz. Ja, sage ich, damals im Jahr 2020 nach der Krise hat ein grosses Umdenken stattgefunden, damals wurden auch die ersten Wisents im Solothurner Jura ausgewildert. Und jetzt, 30 Jahre später, grasen diese friedlich auch hier im Zürcher Oberland.

Wisent-Kühe mit ihren Kälbern auf einer Wiese am Tag
Die Herden der Wisent bestehen aus Mutterkühen und Kälbern.

Der Wisent kehrt zurück in die Schweiz

Schön wäre es, wenn diese Situation im Jahr 2050 wahr würde, wenn wir aus der aktuellen Krise und Angst vor dem unsichtbaren Virus – dem Corona-Virus – lernen würden, dass gross nicht gefährlich ist, sondern Kleines viel gefährlicher sein kann und Milliarden, wenn nicht gar Billionen weltweit verschlingt.

Es ist zu hoffen, dass wir lernen und Projekte, die noch starken Widerstand erleben, im Gesamtbild unterstützen, wie das Projekt «Wisent-Th al», welches seit ein paar Jahren vorbereitet wird, um in einer Testphase von 10 Jahren den Wisent im Solothurner Jura auszuwildern und zu überwachen. Aber wer ist dieser Ureinwohner, das Wisent, eigentlich? Und weshalb verschwand es?

Wisente beeindruckten schon seit jeher die Menschen in ihrer imposanten Gestalt. Schon vor 17 000 Jahren war dies so, dies bezeugt eine alte Felszeichnung, welche in der Altamira-Höhle in Spanien gefunden wurde. Die grossen, schweren Tiere waren eine beliebte Jagdbeute und wurde so lange gejagt, bis sie nach und nach in ganz Europa verschwanden. Im Jahr 1923 verbliebenden einzig ein paar Wisente in Zoos und privaten Zuchten.

Wiesent-Kuh mit ihrem Jungen schauen nach vorne
Kurz nach der Geburt steht das junge Wisent

Wisente sind imposante Herdentiere, wie unsere Milchkühe

Wisente gehören zur Gattung der Hornträger und sind nicht nur mit unseren Milchkühen und anderen Rinderartigen verwandt, sondern auch mit den in Nordamerika lebenden Bisons. Wie unsere Milchkühe sind Wisente Herdentiere, die meisten leben in Muttergruppen, welche sich aus Kühen, ihren Kälbern und dem Nachwuchs aus vergangenen Jahren zusammensetzen. Die Bullen leben in Gruppen zusammen oder sind als Einzelgänger unterwegs. Nur um sich fortzupflanzen, schliessen sie sich im Juli den Muttergruppen an und verlassen diese nach der Brunftzeit, welche zwischen August und September liegt, wieder. Durchschnittlich bestehen diese Herden aus acht bis zwanzig Tieren und sie kennen sich untereinander. Jede weiss, wo ihr Platz in der hierarchisch geführten Gruppe ist. Die erfahrene Leitkuh führt die Wisent- Herde an, denn sie ist es, welche die vielversprechenden Nahrungsplätze und Wasserstellen am besten kennt.

Da Wisente nicht territorial sind, überlappen sich die bis zu 40 Quadratkilometer grossen Streifgebiete. Treff en Herden aufeinander, schliessen sie sich auch für kurze Zeit zusammen, um sich dann wieder später in kleineren Gruppen aufzuteilen. Dies ist auch die Gelegenheit für junge Bullen von zwei bis drei Jahren, die Muttergruppe zu verlassen und sich einer Junggesellen-Gruppe anzuschliessen.

Wisente sind Weiderkäuer und Pflanzenfresser mit gutem Appetit

Wisente sind wie alle Paarhufer Wiederkäuer und Pflanzenfresser und leben bevorzugt in Laub- oder Mischwäldern. Je nach Gebiet treffen wir sie auch auf offenen Flächen wie Weiden, Waldwiesen, Kahlschlagflächen und jungen Baumanpflanzungen. Es erstaunt daher wenig, dass das Nahrungsspektrum sowohl Gräser, Kräuter als auch Teile von Bäumen und Sträuchern wie Triebe, Äste, Knospen, Samen, Rinde oder Wurzeln umfasst. Auch Pilze und Flechten werden nicht verschmäht. Der Nahrungsbedarf liegt zwischen 30 und 60 Kilogramm Futter am Tag, der Grossteil davon sind frische Grünpflanzen und ein kleiner Teil verholzte Nahrung.

Dass die imposanten Tiere einen guten Appetit haben, erstaunt ebenfalls nicht, denn die grösseren Bullen erreichen eine Höhe von 190 Zentimetern und eine Körperlänge von bis 3 Metern. Mit einem Körpergewicht von 530 bis 920 Kilogramm und dem ohnehin massiven Vorderteil wirkt der aus Knochenfortsätzen und Muskeln gebildete Buckel besonders eindrücklich. Die Wisent-Kuh ist dagegen schon fast zierlich mit ihrer Höhe von 150 Zentimetern und einer Körperlänge von höchstens 2,3 Metern. Sie hat auch nur ein Körpergewicht von 320 bis 540 Kilo gramm. Das braune Fell ist, sowohl bei der zierlichen Dame als auch beim stattlichen Bullen, am Vorderkörper und auf dem Kopf länger und zotteliger als am übrigen Körper. Beide tragen auch verhältnismässig kleine, nach innen gebogene Hörner. Freilebende Wisent erreichen eine Lebenserwartung zwischen 20 und 25 Jahren.

Liegender Wisent-Bulle auf karger Erde
Der Wisent-Bulle zeiht alleine oder in einer Junggesellen-Gruppe umher.

In der Brunftzeit gesellt sich der Wisentbulle zu den Kühen

In der Zeit von August bis September prüfen die Bullen die Paarungsbereitschaft der Kühe – aber nur Bullen zwischen 6 und 12 Jahren sind stark genug, um sich gegen andere Nebenbuhler durchzusetzen und eine Herde für sich zu beanspruchen. Beanspruchen zwei gleich starke Bullen eine Herde, kommt es erst zu Drohgebärden, und reicht das nicht aus, kommt es zum Kampf. Zieht sich der Unterlegene nicht rechtzeitig zurück, kann es durchaus zu Verletzungen kommen.

Die Wisent-Kuh gebärt wie der Mensch nach 9 Monaten oder durchschnittlich 264 Tagen ein Kalb, in Gefangenschaft können es manchmal auch zwei sein. Kurz nach der Geburt stehen die jungen Kälber auf den Beinen und trinken bei der Mutter. Weibliche Wisent sind bereits nach 2–3 Jahren bereit für die Fortpflanzung und bringen im Alter von 4 Jahren ihr erstes Kalb zur Welt. Die männlichen Jungbullen müssen etwas länger warten, bis sie genügend stark sind, um sich erfolgreich fortzupflanzen.

Die Wisent-Kühe und ihr mütterlicher Instinkt

Genau wie unsere Schweizer Kühe sind auch die Wisente grundsätzlich scheue und zurückhaltende Tiere und meiden uns Menschen. Auch wenn vor allem der männliche Bulle uns wie eine Dampflock plattwalzen könnte, ist dieser friedlich. Beobachtet wurde, dass Mutterkühe mit jungen Kälbern oder Bullen während der Brunftzeit manchmal mit Drohverhalten auf die Nähe von Menschen reagierten. Zu Unfällen ist es aber nie gekommen. Aber welcher Vater oder Mutter würde nicht sein Kind schützen wollen, deshalb heisst es generell zurückziehen und die Tiere in Ruhe lassen.

So sollten wir nicht nur dem Wisent in der Schweiz mit dem Projekt «Wisent-Thal» eine Chance geben, sondern auch anderen Grossraubtieren wie Wolf und Bär, denn diese Gefahren sehen wir sofort und können ausweichen, ganz im Gegensatz zur aktuellen unsichtbaren Gefahr.

Wisente auf einer Wiese vor dem Wald
So friedlich könnte uns eine Wisent-Herde in Zukunft begegnen.

In letzter Minute gerettet

So zusagen in letzter Minute wurde 1923 in Berlin eine «internationale Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents» gegründet. Mit den verbleibenden 54 Wisenten wurde die schwierige Nachtzucht aufgebaut. Schwierig deshalb, weil sich aus verschiedenen Gründen nur 12 dieser Tiere eigneten. Ursprünglich war der Wisent in zwei Unterarten vorgekommen. Dem Flachlandwisent (Bison bonasus bonasus), welcher in der historischen Zeit in den Waldgebieten von West-, Mittel und teilweise Südosteuropa bis zum Don vorkam, und dem Kaukasuswisent (Bison bonasus caucasicus), welcher vorwiegend die Wälder am Nordhang des Kaukausmassivs und deren Vorgebirge bewohnte.

Da nur ein einziger reinrassiger Bulle der Kaukauswisente überlebt hatte, wurde er mit den verbleibenden Flachland-Wisentkühen verpaart. So entstand die «Flachland-Kaukasus-Linie». Die reinrassige Flachlandwisent-Linie geht auf lediglich sieben Gründertiere zurück. Die beiden Zuchtlinien werden seither völlig getrennt gehalten und mit Sorgfalt überwacht, um Inzucht so gut wie möglich zu vermeiden. 1952 konnten in polnischen Białowieża-Urwald die ersten Flachlandwisente ausgewildert werden. 10 Jahre später wurde auch die zweite Linie in Polen und anderen osteuropäischen Ländern ausgewildert und wurden weitere Flachlandwisents ausgesetzt. Die ersten freilebenden Wisente leben seit 2013 in unserem Nachbarland Deutschland im Rothaargebirge. Auch in einem Waldgebiet im solothurnischen Welschenrohr sollen sie gemäss Verein «Wisent Thal» in naher Zukunft heimisch werden. Das Projekt sieht vor, eine Herde aus 5 bis 25 Tieren zuerst zur Angewöhnung zwei Jahre in einem Gehege von 50 Hektaren und danach weitere drei Jahre in einem rund 1 Quadratkilometer grossen Gehege zu halten. Es soll während der fünf Jahre untersucht und geprüft werden, wie sich die Nahrungswahl, das Verhalten der Herde gegenüber Menschen, Vieh und Einrichtungen aller Art entwickelt. Falls die Resultate zeigen, dass der Wisent im Gebiet wirtschaftlich, ökologisch und politisch tragbar ist, sollen sich die Wisente weitere fünf Jahre frei bewegen können. Mehr zum ganzen Projekt unter www.wisent-thal.ch.

Weitere Wildtiere die in der Schweiz zu Hause sind:

Der Kammmolch - ein Wasserdrache mit Rückenkamm

Der Fischotter kehrt langsam zurück in die Schweiz

Die Wasseramsel ist ein Wasservogel


NATURZYT Ausgabe Juni 2020, Text Michael Knaus, Fotos AdobeStock

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