Der Alpstein ist ein Eldorado für Wanderer mit entsprechend viel Betrieb. Doch man findet im imposanten Appenzeller Gebirgsmassiv auch beschauliche Seiten. Zum Beispiel auf der Alp Sigel, einer Traumalp weit ab vom Rummel.
Der Alpstein und das Appenzellerland – das ist wahre Liebe. Die Appenzeller verdanken dem Alpstein einen kleinen Anteil an den Alpen; das freistehende Bergmassiv setzt dem hügeligen Vorland gewissermassen die Krone auf. Und was für eine: spitze Gipfel, kühne Felstürmchen, schmale Grate, tief eingeschnittene Täler und Schluchten, drei Bergseen und ein unübersehbarer Chef in der Mitte, der 2503 Meter hohe Säntis, prägen das Kalkgebirge. Dieses landschaftliche Potenzial wissen die Appenzeller zu nutzen. Im Alpstein werden Kühe, Ziegen, Schweine, Hühner und Schafe gesömmert, würziger Bergkäse produziert und urchiges Brauchtum gelebt. Auf Ausflügler und Wanderer warten mehrere Luftseilbahnen, das wohl dichteste Wegnetz der Schweiz und über 25 Berggasthäuser, einige samt Übernachtungsmöglichkeiten.

Im Alpstein findet man auch ruhige Ecken und einsame Touren
Die Touristen wissen das Angebot zu schätzen. In Scharen strömen sie her, an schönen Tagen gleichen die Parkplätze bei den Bergbahnen solchen von Einkaufszentren, auf den bekannten Routen ist dann Völkerwandern angesagt. Trotzdem: Im Alpstein finden sich auch ruhige Ecken und einsame Touren. Sie liegen weit ab von Bergwirtschaften, lassen bekannte Gipfel und Grate aus und versprechen auch sonst keine Höhepunkte, zumindest auf den ersten Blick. Die Wanderung von Brülisau über die Alp Sigel nach Wasserauen gehört zu dieser Kategorie. Dennoch beinhaltet sie alles, was Wandern im Alpstein speziell macht: einen steilen Aufstieg, eine mit Seilen und Treppen gespickte Felspassage, eine weitläufige Alp zum Ausspannen und natürlich viel Aussicht, Sonne und den obligaten kniefressenden Abstieg. Der Ausgangspunkt, das beschauliche Dorf Brülisau, ist einer der Hotspots im Alpstein. Die Luftseilbahn zum Hohen Kasten mit seinem Drehrestaurant startet hier, das Postauto von Weissbad ist entsprechend voll. Zur Alp Sigel hingegen will niemand. Die ersten Mitwanderer werden uns erst gegen Mittag begegnen. A propos Mittag. Im Appenzell gehört zum Picknick ein Stück Appenzellerkäse. In der Dorfbäckerei gibt es ihn «mild», «reif» und «räss». Nach dem Unterschied zwischen reif und räss gefragt, lächelt die Frau hinter dem Ladentisch und meint: «Das merked Sie de scho.» Wir begnügen uns mit der Stufe mild und sind froh um die Wahl. Appenzeller ist sehr würzig, selbst in seiner schwächsten Form.

Mord auf dem Säntis
Von Beginn weg verwöhnt uns die Sonne. Über sumpfige Weiden geht es in die Höhe, rundherum machen sich blühende Herbstzeitlosen breit. Eine erste Pause haben wir uns bei der Alp Cher verdient. Wir sind bereits ordentlich gestiegen, die Sitzbank mit Blick auf den Säntis ist willkommen. Sein 123 Meter hoher Sendeturm versorgt das Land mit Fernseh- und Radio programmen und den Bund mit Wetter daten. Und er war einst Schauplatz einer schaurigen Geschichte. Am 21. Februar 1922 wurden auf dem Gipfel die Säntis-Wetterwarte Heinrich und Lena Haas ermordet. Der Täter, ein gewisser Anton Kreuzpointer, stieg bei höchster Lawinengefahr und Unmengen Neuschnee mit Ski auf den Säntis, wohnte fünf Tage beim Ehepaar und erschoss dann die Frau in der Wetterstation und den Mann auf dem Gipfel. Nach der Tat soll er mit schönsten Telemarkschwüngen ins Tal zurückgekehrt sein. Später nahm er sich in einer Alphütte das Leben.

Über die Alp Bärnstein durch die Sigelwand auf die Alp Sigel
Ein Blick auf den weiteren Wegverlauf holt uns aus der Vergangenheit zurück. Es warten der steile Zickzackpfad über die Alp Bärstein und die unbezwingbar scheinende Sigelwand. Ein Durchschlupf durch die Felsen ist erst auszumachen, wenn man unter dem mächtigen Riegel steht. Zahme Gocht heisst der Kamin. Er ist mit Seilen, künstlichen Stufen und Geländern gespickt und spuckt uns nach zehn Minuten Kraxeln auf der Alp Sigel wieder aus. Was für ein Szenenwechsel. Endlos scheint die Welt hier oben; es hat massenhaft Platz, um sich unter der Herbstsonne nieder lassen. Die Kühe sind längst im Tal, die Alp winterfest gemacht. Die Alp Sigel ähnelt einem Dorf, rund ein Dutzend Alphütten und Ställe stehen nahe beieinander.

Nochmals ein Stück einsamer, und in absoluter Traumlage, lädt eine knappe Wanderstunde später die Alp Obere Mans zur Rast. Der Weg hierhin schlängelt sich erst elegant dem Hang entlang mit Ausblick auf den Sämtisersee und den Hohen Kasten, danach taucht man ein in einen lichten Wald mit knorrigen Bäumen , die aussehen wie aus dem Märchenland. Ist die Obere Mans passiert, heisst es sich entscheiden: Ein eindrücklicher, leicht ausgesetzter Weg führt oben durch Richtung Bogartenlücke, eine kleine Einsattelung. Mit Glück lassen sich hier Gämsen und Steinböcke erblicken, und die Schroffh eit des Alpsteins wird nochmals richtig spürbar. Ansonsten steigt man direkt ab, im steilen Zickzack Wasserauen entgegen, und reiht sich kurz vor dem Hüttentobel in den Wanderstrom ein, der vom Seealpsee herkommt – mit dem guten Gefühl im Herzen, dass der Alpstein auch noch einsam sein kann. Zumindest etwas.

Tipps und Infos zur Wanderung auf die Alp Sigel
Wanderroute: Brülisau–Bärstein–Zahme Gocht–Alp Sigel–Obere Mans –Kleinhütten (direkt oder via Bogartenfi rst)–Wasserauen.
Variante: Wer Lust hat auf Appenzeller Küche, steigt von der Alp Sigel zum Gasthaus Plattenbödeli ab und kehrt danach nach Brülisau zurück. Verkürzt die Wanderung um gut eine Stunde.
Anforderungen: Die Wanderung erfordert sicheren Tritt, gute Kondition und Freude an einer kurzen, seilgesicherten Steilrinne. Die Wanderzeit beträgt rund 4,5 Stunden.
Einkehr: In Brülisau und Wasserauen. Zur Alpzeit auch auf der Alp Sigel.
An-und Rückreise: Mit dem Zug über Gossau nach Weissbad, dann mit dem Postauto nach Brülisau Kastenbahn. Zurück ab Wasserauen mit dem Zug nach Gossau. Das Auto parkiert man am besten in Weissbad.
Kartenmaterial: Wanderkarte Blatt 227T, Appenzell.
Weitere schöne Herbstwanderungen die es zu erleben gilt:
Triftbrücke und Triftschlucht: Schaukeln über der Schlucht
Walensee: Wandern an der Ostschweizer Riviera
Wandern an der Doubs mit Eisvogel und Wasseramsel
NATURZYT Ausgabe September 2023, Text/Fotos Daniel Fleuti