Wir sind nicht die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten, doch wir sehen die Dinge immer nur aus unserer Sicht. Wie aber wäre es, wenn wir hören könnten, was unsere 4-, 8- oder 111-beinigen Mitbewohner dieser Erde uns zu sagen haben? Was würden sie wohl über uns Menschen denken, und wie würden sie ihr Zusammenleben mit uns empfinden?
Eine spannende Idee – sähen wir das ganze einmal aus ihrer Sicht und erführen, was sie uns alles zu sagen hätten. Naturzyt hat sich deshalb entschlossen, neue Wege auszuprobieren und sich darüber Gedanken zu machen, was wäre, wenn sie wie wir sprächen und wir sie einfach fragen könnten.
Im Herbst sehen wir sie wieder öfter, wenn wir abends noch einen kleinen Spaziergang am Waldrand entlang machen. Sie stehen mitten auf dem Feld und schauen uns entgegen, um kurz danach springend den schützenden Waldsaum zu erreichen, um sich flugs darin zu verstecken. Sie verzaubern uns mit ihrem hübschen Anblick und dem Blick ihrer unschuldigen Augen. Sie sind für uns Menschen Sinnbild von Scheuheit, Zartheit und Anmut. Der wohl bekannteste Vertreter ihrer Art kennt wohl jedes Kind – es ist Bambi, unser wundervolles Rehkitz.
Da unsere Redaktion direkt an Landwirtschaftsland mit einem kleinen Waldsaum grenzt, sehen wir immer wieder Rehe, welche auf den Feldern äsen. Auch auf unseren häufigen Spaziergängen am Waldsaum entlang und durch den Wald begegnen wir ihnen immer wieder. Vor allem jetzt im Herbst, wenn die Tage kürzer werden, treffen wir sie häufig in Rudeln an. So konnte ich die Gelegenheit eines Abends nutzen, als ich einen hübschen Rehbock im Wald antraf, und ihn um ein kleines Interview bitten.
HALLO, DU HÜBSCHER BURSCHE, HAB KEINE ANGST, ICH TU DIR NICHTS. ICH WÜRDE DICH GERNE UM EIN GESPRÄCH BITTEN. HÄTTEST DU ZEIT UND LUST, MIR ETWAS ÜBER DICH UND DEINE ART ZU ERZÄHLEN?
Ich habe dich längst gerochen. Ich habe nämlich eine sehr feine Nase und kann Menschen und andere Gefahren schon aus etwa 350 Metern Entfernung riechen. Wenn du versprichst, nicht näher zu kommen, und dich ganz ruhig verhältst, können wir gerne ein kurzes Gespräch führen. Wer bist du denn überhaupt?
ICH BIN GINI VON DER NATURZYT-REDAKTION UND ICH INTERVIEWE TIERE, UM SIE DEN MENSCHEN NÄHERZUBRINGEN. WIE HEISST DU DENN, DU SCHÖNER?
Ich bin Benjamin Rehbock. Was willst du denn alles wissen?
BENJAMIN IST ABER EIN SEHR SCHÖNER NAME. DU BIST EIN JUNGER HIRSCH, NICHT WAHR?
Keineswegs, unsere Art ist etwa 15 Millionen Jahre älter als die der Hirsche. Ich bin ein Rehbock, und wie mein Name schon sagt, gehöre ich zu den Rehen. Wir sind eine eigenständige Gattung. Wir Rehe sind sogenannte Trughirsche und gehören eher zu den Elchen als zu Dam- und Rotwild. Ein Hirsch gehört zur Gattung der Echten Hirsche.
DANN STIMMT DAS MIT BAMBI GAR NICHT, DASS AUS EINEM REH EIN HIRSCH WIRD. SOWAS ABER AUCH. HÄTTE BAMBI DENN VIELLEICHT GAR KEINE WEISSEN PUNKTE, WENN ES EIN HIRSCHKALB WÄRE?
Doch, vom Äusseren her haben wir einige Gemeinsamkeiten mit den Echten Hirschen. Kitze haben genau wie Hirschkälber weisse Punkte auf dem Fell. Diese bleiben, bis wir sie etwa 4–8 Wochen nach unserer Geburt verlieren. Das heisst, unser normales rotbräunliches Sommerhaar fängt an, diese weissen Flecken zu verdecken. Hirschkälber gehören zu den Folgetypen und sind kurz nach der Geburt gleich auf ihre Mama geprägt. Wir brauchen etwas länger, da wir zu den Liegetypen gehören. Als Kitz habe ich fast 12 Tage gebraucht, bis ich sicher wusste, wer Mama ist, und eine enge Bindung zu ihr hatte. Ausser dem fangen wir erst so mit 10 Tagen an, einen Bewegungstrieb zu bilden. Hirschkälber laufen in diesem Alter bereits mit ihrer Mutter mit, die sich wieder dem Hirschkuh Rudel angeschlossen hat, während meine Mama noch immer ein kleines Territorium für uns allein besetzte.

Benjamin Rehbock ist ein stattlicher 3-jähriger Rehbock mit eigenem Territorium. Frisst am liebsten energiereiche Kräuter und mag Hunde überhaupt nicht.
GIBT ES NOCH MEHR SOLCH FRAPPANTE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN REHEN UND HIRSCHEN?
Natürlich, Hirsche sind etwa doppelt so gross und etwa 10mal schwerer als wir. Es sind eigentlich Steppentiere, die sich an ein Leben im Wald angepasst haben. Das sieht man am Körperbau. Wir sind kleiner und schmaler gebaut als Hirsche. So können wir uns gut durch jedes Dickicht winden. Hirsche haben lange Beine und einen geraden Rücken und sind gute Läufer. Unsere Hinterbeine sind länger und sehr muskulös, da wir Kurzstrecken-Flüchter sind. Wir gehen eher in Deckung und warten ab, bis der Feind kurz vor uns steht oder sogar vorbeigelaufen ist, dann springen wir mit einigen schnellen Sätzen davon. Am liebsten vom Hell ins Dunkel. Das verwirrt die Sicht. Wir leben eher im Wald und am Waldrand. Es gibt zwar auch Feldrehe, welche sich an ein Leben auf den Feldern angepasst haben. Ausserdem haben Hirsche ein mächtiges 12-Ender-Geweih auf dem Kopf, das gut und gerne 15 Kilo schwer werden kann. Wir nur ein Gehörn mit 3 Spitzen pro Stange. Wiegt aber doch ganz schön was; meins nämlich, wenn’s im Frühjahr vollständig ausgebildet ist, so um die 500 Gramm. Im Herbst, so gegen Oktober, November jeden Jahres werfen wir unsere Gehörne aber ebenso wie die anderen Hirscharten ab.
WIE GROSS BIST DU DENN? UND WIE VERHÄLT SICH DAS MIT EUREM GEHÖRN? ICH HABE GEHÖRT, DASS MAN AN DER ANZAHL DER VERZWEIGUNGEN DES GEWEIHS DAS ALTER DES JEWEILIGEN HIRSCHES BZW. REHBOCKS ERKENNEN KANN. STIMMT DAS?
Ich bin ein recht stattliches Exemplar von einem Rehbock mit meiner Schulterhöhe von gut 65 Zentimetern und einer Körperlänge von rund 130 Zentimetern. Ausserdem bringe ich etwa 28 kg auf die Waage. Unser Gehörn benutzen wir zur Verteidigung unseres Territoriums. Zu dessen Markierung haben wir Duftdrüsen unter dem Scheitel zwischen den Hörnern und zwischen den Klauen an den Hinterbeinen. So im Oktober/November werfen wir das alte und oftmals vom Kämpfen defekte Gehörn ab. Danach beginnt das neue sofort unter einer nährenden und durchbluteten Basthaut nachzuwachsen. Im darauffolgenden Frühjahr ist es wieder komplett und wir fegen die abgestorbene Basthaut durch Reiben an Bäumen ab. So ist unser Gehörn wieder voll einsatzfähig. Die abgestossenen Stangen sind bei zahlreichen Nagetieren recht beliebt da sie viel Kalzium und Phosphor enthalten. Das mit dem Alter stimmt nur bedingt. Erkennen kann man lediglich, ob ein Rehbock sein erstes Geweih hat oder schon das zweite. Mmmhm, warte mal, mit 3 Monaten haben meine Rosenstöcke begonnen zu wachsen. Die habe ich dann so im Dezember bis Januar abgescheuert und daraus haben dann die Spitzen meines Erstlings-Geweihs hervorgeschaut. Das habe ich dann kurz danach abgeworfen und das erste Geweih ist dann daraus hervorgewachsen. Das erste waren dann 2 einfache Stangen ohne Sprossen. Danach war es dann genau wie heute mit 3 Sprossen an jeder Stange. Das Geweih ist eigentlich immer eine Anzeige dafür, wie gut unser Allgemeinzustand ist. Unser Alter kannst du also aus den Enden nicht ablesen. Dafür müsste ich dich schon in meinen Mund nach meinen Zähnen schauen lassen. Ältere Tiere haben vom Kauen abgenutzte Zähne. Dann bekommen sie auch Probleme mit der Produktion der nötigen Mineralien für die Hörner.
SEHR INTERESSANT, DEINE AUSFÜHRUNGEN. WAS ESST IHR DENN SO? NUR GRAS ODER AUCH ANDERES?
Ich bin sehr wählerisch, was mein Futter angeht. Rotwild ist da wenig wählerisch. Sie brauchen vor allem zellulosereiche Nahrung, welche sie mit Gräsern Kräutern und Knospen decken. Bei uns Rehen jedoch ist das anders. Ich mag im Sommer leichtverdauliche, energiereiche Kräuter, Gräser, Blüten, Samen, Getreide, Klee und Luzerne. Aber auch Triebe, Knospen und Blätter sind eine leckere Abwechslung. Daran esse ich mir genug Fett an, damit ich dann in der Brunftzeit im Juli/August genügend Reserven habe. Da bin ich schliesslich in meinem Territorium unterwegs und beglücke die hübschen Ricken mit meinem Charme …
Ab Herbst mag ich gerne Pilze, Beeren, Obst, Kastanien, Eicheln, Bucheckern, Brom- und Himbeerblätter, Flechten, Moose und Rinde. Damit esse ich mir die Winterreserve an. Den Wasserbedarf decken wir eigentlich bereits mit der Nahrung ab. Nur sehr selten muss ich was trinken, aber dann kann ich minutenlang das Wasser einsaugen. Wir haben sehr gerne Abwechslung in der Nahrung, machen aber immer eine Wiederkäu-Pause zwischen 2 verschiedenen Pflanzen. Wenn mir dann schlecht wird von der zuvor gegessenen Pflanze, werde ich sie nie mehr essen. Pflanzen, die mir meine Mutter beigebracht hat, erkenne ich am Geruch und Geschmack. Ich probiere auch kaum etwas Neues aus. Ich erinnere mich noch gut: Als ich klein war, habe ich was fressen wollen, das meine Mama nicht gekannt hat. Ui, die ist voll auf mich losgegangen und hat mich angegriffen. Ich hatte solche Angst, dass ich um die Pflanze heute noch einen grossen Bogen mache.
DA HAT DEINE MAMA ABER GUT AUF DICH AUFGEPASST. WIE ICH SEHE, BIST DU ALLEIN UNTERWEGS. WO HAST DU DENN DEINE HERDE GELASSEN?
Ich lebe allein, wie alle Rehe. Auch das ist ein Unterschied zwischen Hirschen und Rehen. Nur in den Wintermonaten schliessen wir uns in kleineren Sprüngen zusammen. Ausnahmen sind jeweils die Ricken mit ihren Kitzen, die sie zwischen Mai und Juni gebären und danach betreuen. Diese leben in eigenen kleinen Territorien, welche sie auch zum Schutz der Kleinen gegen andere Rehgeissen und Prädatoren wie z.B. Füchse verteidigen. Das geht aber höchstens bis zum nächsten Frühling so, dann vertreibt die Ricke ihre Kinder. Schliesslich gibt es dann bald wieder Kitze, für die sie ihr kleines Territorium wieder braucht.
ACH SO. ALSO DAS IST ABER EINE LANGE TRAGEZEIT BEI DEN RICKEN, WENN IHR DIE BRUNFT IM JULI /AUGUST HABT. 9 MONATE, DAS IST JA DANN FAST WIE BEIM MENSCHEN.
Ja Rehe haben eine lange Tragezeit, 290 Tage etwa. Darin ist aber auch eine sogenannte Keimruhe. Das heisst, das befruchtete Ei entwickelt sich erst ab ca. Dezember weiter. Hirsche haben eine spätere Brunft, ca. September/Oktober, weil diese keine Keimruhe kennen. Ich wurde Ende Mai geboren und meine Mama musste mich 2-mal umplatzieren wegen der blöden Mahd der Felder. Dabei ist es doch schön, wenn das Gras und die Kräuter so hoch stehen.
JA, DAS IST EIN ECHTES PROBLEM. ABER ICH WEISS, DASS HEUTE SEHR DARAUF GEACHTET WIRD, DASS DIE BAUERN DIE ZU MÄHENDEN FELDER ERST ÜBERPRÜFEN, OB SICH KEINE KITZE DARIN BEFINDEN. WIE ALT WERDEN REHE DENN EIGENTLICH, UND WIE ALT BIST DU
Eigentlich können Rehe bis zu 15 Jahre alt werden, Hirsche so bis 20. Aber in freier Wildbahn wird kaum eines so alt. Dafür sind wir zu vielen Gefahren ausgesetzt. Autoverkehr und schiesswütige Jäger, wildernde Hunde und riesige Agrarmaschinen machen unser Leben gefährlich. Normalerweise werden wir nicht viel älter als 3–6 Jahre. Ich bin schon 3 und hoffe noch ein paar Jahre vor mir zu haben. Hast du noch eine Frage an mich? Weil wenn nicht, verschwinde ich jetzt. Ich rieche nämlich, dass da ein Mensch mit Hund kommt. Die mag ich gar nicht. Die Hunde meine ich. Die können echt gefährlich sein. Mich hat schon mal einer gejagt.
ICH MÖCHTE NUR NOCH WISSEN, OB DU NOCH EINEN WUNSCH AN UNS MENSCHEN HÄTTEST.
Ich fände es cool, wenn ihr eure Hunde an die Leine nehmen würdet, wenn ihr am Waldrand oder im Wald unterwegs seid. Und wenn ihr euch im Winter an die vorgepflügten Menschenpfade haltet. Denn all die Fluchten sind für uns sehr kräftezehrend und brauchen zu viel unserer Energiereserven. Das schwächt uns unnötig. Wenn ihr rücksichtsvoll durch die Natur geht, ist das für uns alle schön.
DAS WERDE ICH GERNE SO WEITERGEBEN. ICH WÜNSCHE DIR EIN LANGES UND GESUNDES LEBEN, LIEBER BENJAMIN.ICH DANKE DIR FÜR DAS GESPRÄCH.
Das wünsche ich dir auch. Tschüüüüssss.
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NATURZYT Ausgabe Dezember 2023, Text, Illustration Virginia Knaus Foto Adobe Stock