Mit seinem Stachelkleid, der spitzen Schnauze, den kleinen runden Knopfaugen und seinem kecken Blick ist der Igel der Liebling unter den Wildtieren in der schweizerischen Landschaft. Was nicht heisst, dass sein Leben einfach ist. Denn der motorisierte Individualverkehr und die Versiegelung der Landschaft raffen jährlich Tausende von Igeln dahin. Dabei kann dem geschützten Wildtier mit einfachen Massnahmen geholfen werden. Man muss nur wissen, wie und wo.
NATURZYT hat zusammen mit dem Igelzentrum Zürich den Jahreszyklus eines Igels in der Stadt begleitet. Und dabei allerhand Interessantes und Unbekanntes über die stachligen Tiere erfahren.
Seit über einer Woche herrschen frühlingshafte Temperaturen in der Stadt. An allen Ecken und Enden spriessen Gräser, entfalten sich Blätter, blühen Bäume und Sträucher und verbreiten ihren süssen Duft. Zahlreiche Insekten sind bereits unterwegs. Frühling ist’s. Zeit für einen Igel, nennen wir ihn X1, aus dem Winterschlaf aufzuwachen. X1 hat den Winter ohne grosse Probleme in einem Familiengarten am Zürichberg überstanden: Eingekugelt in seinem Winternest bei einer reduzierten Körpertemperatur von etwa 5 °C und einer Atemfrequenz von 3–4 Atemzügen pro Minute. Nun haben die längeren Tage und die warmen Temperaturen seine Lebensgeister geweckt. Langsam, aber stetig steigt die Körpertemperatur des Igels, eines Weibchens, wieder auf 36°C an und die Herzfrequenz pendelt sich bei 40–50 Atemzügen pro Minute ein. Nach dem Eindunkeln wagt die Igelin sich heuer zum ersten Mal aus ihrem Nest. Noch etwas steif, streckt sie die Nase in die Höhe, schnuppert, wittert und legt dann los. Sie muss jetzt unbedingt Würmer, Schnecken und Insekten finden, denn ihr Hunger ist gross. Kein Wunder, hat doch X1 rund 30 % ihres Gewichtes in der langen Winterpause verloren. Zu ihrem Glück hat sich das Familiengartenquartier nicht gross verändert. So findet sich X1 bald wieder zurecht. Und diese komischen grossen, aufrecht gehenden Wesen, die sich bei schönem Wetter immer in den Gärten tummeln, sind nachts mit Ausnahmen nicht mehr anzutreffen, das weiss X1 noch vom letzten Jahr.
Der Igel lebt immer mehr in der Stadt
Igel, genauer der Braunbrustigel (lat. Erinacaeus europaeus), sind in der Schweiz bis auf eine Höhe von 1000 Meter über Meer nachgewiesen. Eventuell kommen sie auch noch in höheren Lagen vor, aber so genau weiss man das nicht, denn die nachtaktiven, scheuen Tiere sind nur mit viel Aufwand zu beobachten. Früher traf man die Stachelritter vermutlich in halboffenen Graslandschaften, Wäldern mit Lichtungen und Waldrändern an. Heute präsentiert sich ein anderes Bild. Der Igel kommt vorwiegend im menschlichen Siedlungsraum vor. Denn die stachligen Tiere benötigen gute Nahrungsquellen sowie vielgestaltige Rückzugs- und Unterschlupforte, wie sie in naturnahen Hintergärten, Grünflächen in Wohnsiedlungen, Familiengärten, Parks und Friedhöfen zu finden sind. In eintönigen, landwirtschaftlich intensiv genutzten Agrarflächen fühlt sich der Igel nicht wohl. Ganz anders verhält es sich mit dörflichen Siedlungen, Agglomerationen und Städten. Hier findet er kleinräumige, reich strukturierte Gebiete mit zahlreichen Versteckmöglichkeiten und einem ausreichenden Futterangebot. Nicht selten wird er dabei an Komposthaufen, unter Hecken und Sträuchern und auch an Futterstellen von Haustieren gesehen. Dies sind die Gründe, warum das Wildtier Igel zu den sogenannten Kulturfolgern gehört. Damit bezeichnet man Tiere, die dem Menschen in seine Siedlungen und Behausungen nachfolgen. Auch in die Städte.
Igelkarusell im Familiengarten
Mai. Seit einigen Wochen ist X1 nun bereits in ihrem angestammten Streifgebiet unterwegs. Tagsüber schläft sie, mal hier, mal dort, und abends geht sie los. Dank ihres guten Orientierungsvermögens kennt sie sich in «ihren» Familiengärten bestens aus. Sie weiss genau, wo die Komposthaufen stehen, wo sie ihren Durst stillen und wo sie durch Zäune schlüpfen kann. Jede Nacht stöbert X1 herum und verlässt sich dabei ganz auf ihre Nase. Denn diese ist, nebst dem Gehör, ihr wichtigstes Sinnesorgan. Mit ihm erkennt sie die unterschiedlichsten Gerüche und ortet Artgenossen. Aber bis jetzt hat sie sich nicht für ihresgleichen interessiert, ist sie doch, wie alle Igel, eine Einzelgängerin. Doch heute ist alles anders. Ein Igelmännchen, Y2, umkreist sie unermüdlich. Über drei Kilometer hat er, auf der Suche nach ihr, bereits zurückgelegt. Und auch Glück gehabt, musste er doch zwei breite Strassen überqueren. Jetzt lässt er sich nicht mehr abwimmeln. Beharrlich zieht er seine Kreise, und auch wenn X1 ihn wegschubsen will, der Igelmann bleibt dran. Stunden dauert diese Treibephase, das so genannte Igelkarussell, nun bereits, untermalt mit Schnauben und lautem Schnaufen. Endlich lässt X1 den Igelmann ran. Sie legt ihre Stacheln eng an den Körper und drückt ihren Bauch auf den Boden, damit sich Y2 bei der Kopulation nicht verletzt. Nach vollzogener Paarung geht alles schnell voran.
Der Igelmann trollt sich von dannen. Ab jetzt ist die künftige Igelmutter auf sich alleine gestellt. Aber X1 ist eine erfahrene Igelin, bereits zwei Mal hat sie Junge aufgezogen.
Eine geeignete Kinderstube für den Igelnachwuchs
Für den Igelnachwuchs braucht eine Igelmutter eine geeignete Kinderstube. Diese ist oftmals dieselbe, in der schon der Winterschlaf abgehalten wurde. Wichtig ist, dass das Nest mit Blättern und Gras gut isoliert ist und potenziellen Nesträubern keinen Zutritt gewährt. Unterschlupf und Nistmaterial finden sich am besten in naturbelassenen, das heisst nicht aufgeräumten Gärten und Parks. Nach rund 35 Tagen werden zwei bis sieben Jungtiere ohne Fell, aber bereits mit Stacheln geworfen. Damit die Geburtswege der Mutter nicht verletzt werden, liegen die etwa 100 weissen Erstlingsstacheln eingebettet in der aufgequollenen Haut der Igelbabys. Nach der Geburt verändert sich der Hautdruck, und die Stacheln richten sich auf. Die Neugeborenen sind wahre Leichtgewichte, bringen sie doch nicht mehr als 20 Gramm auf die Waage. Während der ersten 14 Tage bleiben die Augen und die Ohren geschlossen, aber dann entwickeln sich die Jungigel zügig. Am Ende der dritten Lebenswoche stossen die Milchzähne durch und das Fell ist gewachsen. Tagsüber bleibt die Mutter im Nest mit ihren Jungen, denn rauszugehen wäre zu gefährlich. Nähert sich ein Feind dem Versteck, faucht sie laut.
Die Sonne ist untergegangen und die Abenddämmerung leuchtet in beeindruckenden Farben. Bereits seit einer Woche entdecken die zwei Jungigel die grosse Familiengartenwelt. Die beiden Racker müssen rasch kennenlernen, was ihnen alles an Fressbarem vor die Igelschnauze kommt. Dabei ist ihnen Mutter Igel keine grosse Hilfe. Aus diesem Grunde wird alles intensiv berochen und bekaut. In ihrer sechsten Lebenswoche wird die Mutter sie zum letzten Mal säugen, ab dann müssen die beiden Igelchen selber für ihr Futter aufkommen. Käfer, Würmer, Larven und vieles mehr kommen auf den Speisezettel und werden einverleibt. Bei der Futtersuche alleine bleibt es aber bei weitem nicht. Weitere Herausforderungen warten auf die beiden Jungigel.
Gefahren für den Igel
Die erste Lebensphase ist nicht einfach für Igelbabys. Futterknappheit, zu wenig Milch oder Infektionen raffen bereits in den ersten Lebenswochen viele junge Igel dahin. Hinzu kommen natürliche Feinde wie der Fuchs, der Dachs, der Uhu oder jagende Hunde. Die grösste Gefahr für alle Igel stellt aber der Mensch dar. An erster Stelle steht der motorisierte Strassenverkehr. Jährlich werden Zigtausende von Igeln überfahren. Auf dem Land wie auch in der Stadt. Temporeduktionen in Quartieren bringen daher nicht nur den Kindern und Erwachsenen einen Mehrwert, auch Tiere profitieren davon. Daneben können Schächte, Gruben, Swimmingpools, offene Kellerfenster, Teiche, Netze, Mähgeräte und dergleichen mehr zu tödlichen Igelfallen werden. Dabei bräuchte es einzig mehr Aufmerksam- und Achtsamkeit, und viele Igel könnten ihre aktiven Monate schadlos(er) überstehen.
Zurück zu X1 und ihren beiden Jungen. Diese hatten bisher Glück und sind noch immer gefrässig. Längst gehen sie getrennte Wege, einzig auf ihren nächtlichen Streifzügen kann es vorkommen, dass sich ihre Wege kreuzen. Inzwischen ist es Herbst geworden, der Winter kann jederzeit hereinbrechen. Grund genug, sich das Winterschlafgewicht anzufressen. Für die beiden Jungigel ist das kein Problem. Der Nahrungstisch ist reich gedeckt und die Familiengartensiedlung verkehrsarm. Ganz anders sieht die Sache für spätgeborene Septemberigel aus. Sie müssen sich in viel kürzerer Zeit winterfit fressen, was zur Folge hat, dass sie manchmal noch im November oder Dezember und auch tagsüber auf Futtersuche anzutreffen sind. Denn wenn sie das Winterschlafgewicht von 500 Gramm nicht erreichen, werden sie den Winter nicht überstehen.
Wie verbringt der Igel den Winterschlaf
X1 hat ein gutes Jahr hinter sich. Keine Selbstverständlichkeit, denn mit ihren vier Jahren ist sie bereits eine ältere Igeldame. Sie blieb von Krankheiten und Unfällen verschont, und auch die Parasiten, Flöhe und Würmer, die sie besiedeln, halten sich in Grenzen. Die Temperaturen sind jetzt täglich gesunken und sie beginnt ihren Winterschlaf. In ihrem alten, gut gepolsterten Nest im Familiengarten. Winterschlaf heisst aber nicht, dass sie jetzt bis zum Frühling durchschläft. Im Durchschnitt verbringen Igel nur rund 80% der Zeit schlafend. Ist das Wetter mild, sind Unterbrechungen des Winterschlafs nicht ungewöhnlich. Meist bleiben die Tiere in dieser Zeit im Nest und schlafen dann einfach weiter. Sie warten auf frühlingshafte Temperaturen und darauf, dass der Igelzyklus weiter geht.
Ein igelfreundlicher Garten
«So schaffen Sie in Ihrem Garten Lebensraum für Kleinlebewesen und sorgen damit für einen reich gedeckten Tisch für Igel und andere Schleckmäuler.»
- Auf eine reichhaltige Strukturierung achten, zum Beispiel mit Hecken
- Einheimische Wildpflanzen verwenden
- Totholz liegen lassen und Laubhaufen anlegen
- Baum- und Strauchschnitt zu Asthaufen aufschichten
- Überalterte Obstbäume stehen lassen
- Auf Magerwiese/Blumenrasen anstatt auf sterilen Rasenteppich setzen
- Verzicht auf Insektizide; Schneckenkorn (eisenphosphathaltige Produkte) nur im «Notfall» und ganz gezielt und lokal einsetzen
- Massvolles Düngen mit organischem Dünger oder Kompost
Mehr Informationen unter www.igelzentrum.ch/igelfreundlichergarten
Das Igelzentrum Zürich
Seit 1998 setzt sich das Igelzentrum für naturnahe Lebensräume für Igel und andere Wildtiere im Siedlungsraum ein. Das Igelzentrum hilft in folgenden Bereichen:
- Beratung: Die Fachleute des Igelzentrum stehen für Fragen aus der Bevölkerung zum Wildtier Igel zur Verfügung.
- Igelpflege und medizinische Versorgung: Für jährlich rund 150 stationär aufgenommene Igel leitstet das Igelzentrum Pflege und medizinische Versorgung.
- Lebendige Umweltbildung: An mehr als 100 Veranstaltungen pro Jahr informiert das Igelzentrum Gross und Klein über das Stacheltier vor ihrer Haustür.
- Öffentlichkeitsarbeit: Das Igelzentrum vermittelt Interessierten praktische Informationen im Umgang mit Igeln.
Das Igelzentrum steht von Montag bis Freitag von 16 bis 18 Uhr für Fragen unter Telefon 044 362 02 03 zur Verfügung. Oder per E-Mail an
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NATURZYT Ausgabe Juni 2014, Text / Fotos Igelzentrum